Zehn Persönlichkeitstypen: Welcher Typ bin ich?

 Persönlichkeitstypen

Zehn Persönlichkeitstypen: Welcher Typ bin ich?[I1] 

Was sind Persönlichkeitstypen?

Jeder Mensch ist einzigartig. Doch gemeinsame Merkmale, die sich an verschiedenen Menschen immer wieder beobachten lassen, machen es sinnvoll, Persönlichkeitstypen zu unterscheiden. Es gibt viele Typenlehren, und jede Unterscheidung von Typen ist nur ein Hilfsmittel, damit wir uns selbst und andere besser verstehen können. Die Beschreibung von Persönlichkeitstypen ist nicht dafür gedacht, Menschen in starre Schubladen zu stecken. Die meisten von uns sind ohnehin eine sehr individuelle Mischung aus mehreren Typen.

 

Welche Typen gibt es?

Ich stelle zehn Persönlichkeitstypen[1] vor. Jeder Typ zeichnet sich durch charakteristische Wesenszüge aus. Bei jedem Typ stehen bestimmte Antriebe und Bedürfnisse im Vordergrund. Damit weist jeder Typ auch seine besonderen Ängste, Empfindlichkeiten, Schattenaspekte und eine Tendenz zu bestimmten Konflikten auf. Die unterschiedlichen Typen lösen in ihren Mitmenschen unterschiedliche Gefühlsreaktionen aus. Und ganz wichtig: Für die verschiedenen Typen bieten sich unterschiedliche Entwicklungschancen und Wege an, wie sie gesunden können. 

 

1. Der altruistische Typ

Wesenszüge

Der altruistische Persönlichkeitstyp verhält sich anderen gegenüber meist umgänglich und rück­sichtsvoll. Er setzt sich engagiert für Gerechtigkeit und das Wohlergehen anderer ein. Oft sieht es so aus, als stelle er die Interessen anderer über seine eigenen. Er stellt hohe Ansprüche an sich selbst und ist ausgesprochen verantwortungsvoll. Er hat die Tendenz, sich im Dienst für andere auszubeuten und zu erschöpfen. Dieser Typ dürfte dir bestens bekannt sein, denn häufig finden wir ihn in den helfenden Berufen: in der Alten- und Krankenpflege, bei Haus- und Krankenhausärzten, unter Sozialarbeitern, Lehrern und Kindergärtnern.

Bei langanhaltender Überforderung und Frustration, zum Beispiel bei zu wenig Aner­kennung und Bestäti­gung von außen, kann es bei diesem Persönlichkeitstyp zu gedrückter Stimmung sowie zum Verlust von Le­bensfreude und Interesse kommen. Dann zeigt sich der altruistische Typ leicht er­müd­bar, antriebslos, leidet an Kon­zentrations- und Schlafstö­rungen, innerer Unruhe, Selbst­zweifeln, Selbstvorwür­fen und Schuldge­fühlen. Auch Neid und Missgunst können auftreten.

Wichtigstes Anliegen 

Für den altruistischen Typ ist es überaus wichtig, für andere wertvoll zu sein. Vertreter dieses Typs wollen unbedingt das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Sie sind sehr abhängig von sozialer Anerkennung.

Hauptsorge

Die Hauptangst dieses Typs ergibt sich direkt aus seinem Hauptanliegen: für andere keinen Wert zu haben, keine wichtige soziale Rolle zu spielen.

Grundkonflikt

Der altruistische Typ sehnt sich danach, um seiner selbst willen geliebt und wertgeschätzt zu werden. Er wünscht sich einen idealen Menschen herbei, der seine Bedürfnisse versteht und befriedigt (und mit dem er seelisch verschmelzen kann). Aber zuvor muss er sich als ideales Gegenüber (bis zur Selbstaufgabe und Erschöpfung) ständig um Liebe und Wertschätzung bemühen.

Empfindlichkeiten

Der altruistische Typ ist besonders sensibel für Situationen, in denen die gewohnte Wertschätzung und das Gefühl, gebraucht zu werden, wegfallen. Das kann zum Beispiel eine Mutter sein, deren erwachsen gewordene Kinder aus dem Haus gehen. Das kann aber auch ein Krankenpfleger sein, der seine ganze Anerkennung und seine hauptsächlichen Sozialkontakte in der Arbeit fand und der sich jetzt wegen berufsbedingter Rückenschmerzen berenten lassen muss.

Gefühlsreaktion anderer

Altruistische Typen sind in der Regel sehr beliebt. Man fühlt sich mit ihnen wohl, weil sie ein gutes Gefühl für die Bedürfnisse ihres Gegenübers haben. Nur wer sie lange kennt und engen Kontakt mit ihnen hat, kann etwas von ihrer unterdrückten Frustration und Wut spüren, vor allem wenn sie sich in ihrem Dienst für andere zunehmend erschöpfen. Nicht selten schmerzt es mit anzusehen, wie diese Personen sich über viele Jahre selbst ausbeuten oder ausbeuten lassen.

Schattenaspekte

Bei altruistischen Menschen spielt der Schatten (gemeint sind damit unbewusste Aspekte) eine besonders große Rolle. Denn die altruistische Persönlichkeit beruht in der Regel nicht auf einer besonders glücklichen Kindheit. Oft haben frühe Mangelerfahrungen zu einer altruistischen Persönlichkeitsentwicklung beigetragen. Altruisten hatten in ihrer Kindheit oft eine Mutter, die nicht ausreichend für sie da sein konnte.

Die Gründe können vielfältig sein: Die Mutter war voll berufstätig. Sie war bereits mit der Versorgung anderer Kinder an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Vielleicht befand sich die Familie auch in einer wirtschaftlichen Notlage, oder sie litt unter einer Krankheit. Belastete Mütter stillen ihr Baby – wenn überhaupt –oft hastig und ungeduldig. Das Baby muss sich schon früh den Bedürfnissen der Mutter anpassen, statt erleben zu dürfen, dass seine Gesten von der Mutter empathisch gespie­gelt werden.

Wenn das Baby älter wird, erwirbt es sich von der überforderten Mutter ein gewisses Maß an Anerkennung und Zuwendung für besondere Leistungen: Dafür, dass es pflegeleicht und anspruchslos ist. Dafür, dass es früh Aufgaben übernimmt und die Mutter entlastet. Trotz der Anerkennung lebt das Kind mit dem Gefühl, dass es für diese erwarteten Eigenschaften, aber nicht für sein wahres Selbst mit all seinen noch nicht gelebten Bedürfnissen geliebt wird.    

Insgeheim wünscht sich der altruistische Typ, dass er auf einen anderen Menschen trifft, der für ihn ein ebenso ideales Gegenüber ist, wie er es selbst gegenüber anderen zu sein versucht. Er sehnt sich danach, dass ihm dieser ideale Andere alles gibt, was er bislang entbehren musste. Nicht selten erwartet der altruistische Typ einen späteren, dafür aber umso größeren Lohn im Jenseits.

Altruistische Menschen haben ein überaus hohes Ideal von sich selbst. Daher können sie sich nicht eingestehen, dass sie so etwas Niederes wie egoistische Antriebe und aggressive Impulsive haben. Doch natürlich gibt es – wie bei jedem von uns – auch in ihnen eine Seite, die ein möglichst großes Stück vom Kuchen und eine privilegierte Position im Leben haben möchte. Aber solche Antriebe und Impulse sind bei ihnen so stark unterdrückt (abgewehrt), dass sie ihnen oft gar nicht bewusst sind. Daher sind solche Menschen auch besonders gefährdet, dass bei ihnen Gier, Neid, Wut und Hass in bestimmten Situationen heftig und unkontrolliert hervorbrechen. Der Hass kann sich dann nach innen richten und zu einer depressiven Stimmung oder sogar zu Selbstmordimpulsen führen.

Entwicklungschancen

Erkennst du dich im altruistischen Typ wieder? Dann gehörst du zu den Menschen, die zusammen mit den gewissenhaften Typen das Rückgrat von Familien, Organisationen und Unternehmen bilden. Du tendierst aber auch dazu, über das Ziel hinauszuschießen. Mit deiner ständigen Selbstausbeutung schadest du nicht nur dir selbst, sondern auch den Menschen oder der Gemeinschaft, der du eigentlich dienen willst. Du verhinderst mit deinem unermüdlichen Engagement, dass auch andere stärker in die Verantwortung gehen und ihr Potenzial voll entfalten. Früher oder später wird dein Altruismus mit seinen Schattenaspekten konfrontiert, typischerweise zeigt sich das, indem du dich ausgebrannt fühlst.

Ausgebrannt-Sein (Burnout) ist eine qualvolle, gefährliche und leider häufige Krankheit. Das Vollbild eines Burnouts geht nicht selten sogar mit Selbstmordgedanken einher. Wenn du davon betroffen bist, fällst du sprichwörtlich aus dir selbst heraus. Nichts geht mehr. Mit einem Burnout kannst du für viele Monate arbeitsunfähig sein. Damit hast du aber die Chance, endlich mit dir selbst und mit deinen oft jahrzehntelang unterdrückten Bedürfnissen in Kontakt zu kommen. Unter günstigen Umständen, zum Beispiel in einer auf Burnout spezialisierten Klinik, darfst du endlich auch mal deine schwache und bedürftige Seite zeigen. Deine Befindlichkeiten und Bedürfnisse haben Raum und werden ernst genommen. Du erhältst die Chance, dich zu üben: in Selbstliebe, Genuss, Achtsamkeit, künstlerischem oder tänzerischem Selbstausdruck, in Entspannung und Zeit haben, in Geduld und Nachsicht (vor allem auch mit dir selbst).


2. Der anhängliche Typ

Wesenszüge

Der anhängliche Typ hat mit dem altruistischen Typ gemeinsam, dass er anderen Menschen meist freundlich und aufgeschlossen begegnet. Die Kontaktfreudigkeit des Anhänglichen beruht dabei aber weniger auf einem hohen Ideal. Vielmehr resultiert sie aus dem Wunsch, sich mit Menschen zu verbinden, die der anhängliche Typ als stärker und kompetenter als sich selbst ansieht. Der Anhängliche ist bereit, sich für die Beziehung mit solchen Menschen anzupassen. Er gibt sich mit untergeordneten Positionen und Aufgaben zufrieden. Sein Verhalten scheint daher auf den ersten Blick angenehm und unkompliziert.

Wichtigste Anliegen 

Für den anhänglichen Typ ist es überaus wichtig, viel Unterstützung, Schutz und Anleitung zu bekommen. Denn er fühlt sich selbst eher klein und schwach. In anderen sieht er die Großen und Starken. Am liebsten lässt er sich sagen, was er tun soll, wenn andere dafür die Verantwortung übernehmen. Das Schönste ist für den Anhänglichen eine Rundumversorgung, die andere für ihn organisieren.

Hauptsorge

Das schlimmste wäre für den Anhänglichen, auf sich selbst gestellt zu sein. Er hat Angst davor, schwerwiegende Entscheidungen zu treffen und dafür die Verantwortung zu übernehmen.

Grundkonflikt

Auch der anhängliche Typ würde gerne autonome Entscheidungen treffen können. Aber er fürchtet: Wenn ich tue, was ich will, werde ich die Menschen, auf die ich angewiesen bin, verlieren. Daher passt er sich ständig an und verzichtet oft sogar darauf, sich weiterzuentwickeln.

Empfindlichkeiten

Der anhängliche Typ ist ausgesprochen sensibel für den Verlust von Menschen, die ihm Stabilität und Führung gewähren. Besonders beunruhigend kann für Anhängliche die Autonomieentwicklung nahestehender Menschen sein, zum Beispiel wenn die eigenen Kinder erwachsen werden. Solange Kinder abhängig sind, gibt diese Abhängigkeit ihren anhänglichen Eltern Halt. Wenn die Kinder das Elternhaus verlassen, fällt für die Eltern nicht nur dieser Halt weg, sondern die unabhängig werdenden Kinder konfrontieren ihre anhänglichen Eltern mit deren eigenen ungelebten Autonomiewünschen (siehe Schattenaspekte).

Gefühlsreaktion anderer

Anhängliche Typen sind oft beliebt, weil sie sich gut anpassen und unterordnen können. Ihre manchmal fast kindliche Arglosigkeit kann sehr liebenswert sein. Doch in Situationen, in denen ihnen ein eigener Standpunkt abverlangt wird, beziehen sie oft keine klare Position. Damit können sie bei anderen Menschen Enttäuschung und Ärger auslösen. Auch kann ihr ständiges Suchen nach Rat und Anleitung mit der Zeit anstrengend werden. Weil Anhängliche so kontaktbedürftig sind, ist es nicht selten mühsam, sie wieder loszuwerden.     

Schattenaspekte

Anhängliche wurden als Kinder oft verwöhnt. Meistens war es die Mutter, die das Kind verwöhnte, weil sie hoffte, es auf diese Weise dauerhaft an sich zu binden. Sie brauchte das Gefühl der Abhängigkeit des Kindes, um ihr eigenes unsicheres Selbsterleben zu stabilisieren. Natürlich geschah das nicht vorsätzlich. Kaum eine Mutter will ihrem Kind schaden. Doch ungewollt behinderte sie mit ihrem Verhalten die Autonomieentwicklung ihres Kindes.

In der Kindheit konnten anhängliche Typen oft wichtige Kompetenzen nicht ausreichend erwerben und blieben dann tatsächlich länger auf die Unterstützung der Mutter angewiesen, als es für ihre Entwicklung gut war. Als Erwachsene bleiben sie nicht selten in ihren kindlichen Mustern gefangen. Unbewusst wollen sie weiter behütet, versorgt und idealerweise verwöhnt werden.

Das hat seinen Preis: Selbstständigkeit, Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstbehauptung, die das Erwachsenwerden und Erwachsensein auszeichnen, kommen zu kurz. Eigenständige Bedürfnisse und Gefühle wie Wut, welche wichtige Beziehungen gefährden könnten, müssen ständig unterdrückt werden. Weil Anhängliche schlecht Konflikte, Spannungen und Frustrationen aushalten können, neigen sie dazu, sich mit Schokolade und Süßigkeiten oder anderen Genuss- und Suchtmitteln in einen angenehmen Zustand zu versetzen.

Entwicklungschancen

Wenn du dich im anhänglichen Typ wiedererkennst, schlummern bei dir der Wunsch und die Fähigkeit, deinen eigenen Weg zu gehen, im Schattenreich. Wenn du dieses Potenzial durchbrichst, kannst auch du erstaunliche Entwicklungsschritte in Richtung Autonomie und Selbstverantwortung gehen. Du kannst die Erfahrung machen, dass du zu mehreren Menschen eine intensive Beziehung eingehen kannst, ohne deshalb von einem geliebten Menschen verlassen zu werden. Als Anhänglicher bist du davor gefeit, deine Eigenständigkeit zum Selbstzweck zu erheben. Du tendierst nicht zu der Illusion, die den autonomen Typ (vgl. 10.) kennzeichnet, völlig unabhängig sein zu können. Du fühlst intuitiv, dass du als Mensch ein soziales Wesen und auf sichere Bindungen zu anderen angewiesen bist.

Als anhänglicher Typ hast du eine große Bereitschaft, anderen zu vertrauen. Es fällt dir auch leichter als anderen, dich einer höheren Ordnung oder Gott anzuvertrauen. Du neigst allerdings auch dazu, anderen unkritisch, mitunter sogar blind und leichtsinnig zu glauben. Es ist gut möglich, dass du dich von charismatischen Führern oder Gurus angezogen fühlst und deren Glücks- und Heilsversprechen vertraust. Natürlich erlebst auch du immer wieder, dass sich deine Wünsche nicht erfüllen. Aber davon lässt du dich nicht allzu sehr beirren. Rascher als andere kommst du über Enttäuschungen hinweg und schöpfst neue Hoffnung.

Deine scheinbare Naivität hat eine realistische Seite: Gerade wenn wir Rückschläge erleiden, sind Vertrauen und Hoffnung unverzichtbare Qualitäten, um wieder auf die Beine zu kommen. Als anhänglicher Typ hast du mit deiner Vertrauensfähigkeit und Zuversicht die Gabe, dich selbst und andere aus einer Stimmung von Resignation und Lähmung herauszureißen. Sobald du den Mut zur Selbstverantwortung aufbringst, kannst du die beglückende Erfahrung machen, dass du stabiler, selbstwirksamer und lebensfähiger bist, als du dir zugetraut hast. Du kannst anfangen, selbst zu strahlen, statt dich im Glanz anderer zu sonnen.

 

3. Der vorsichtige Typ

Wesenszüge

Wie der anhängliche Typ fühlt sich auch der vorsichtige Typ stark auf andere Menschen angewiesen. Daher ist er grundsätzlich kontaktbereit. Aber infolge seines übertriebe­nen Sicher­heitsverlangens benötigt er viel länger als der Anhängliche, Vertrauen zu entwickeln und sich auf innige Beziehungen einzulassen. Um sein Selbstvertrauen steht es oft nicht gut. Mehr als andere Typen fürchtet er Kri­tik, Demü­tigung oder Zurück­weisung. Deshalb ist er vorsichtig, etwas von sich preiszugeben.

Anders als anhänglichen Typen geht es vorsichtigen Typen nicht primär darum, sich versorgen zu lassen. Vorsichtige machen sich nur ungern von einem einzigen Menschen abhängig. Sie können sich ja nie sicher sein, ob der andere immer völlig verlässlich ist. Am liebsten ist ihnen daher ein ganzes Netzwerk von hilfreichen Kontakten, auf die sie im Notfall zurückgreifen können. In einem solchen Netzwerk – sei es in der Familie, im Freundeskreis oder unter Kollegen – sind sie freundliche, bescheidene und verlässliche Mitspieler. Sie achten darauf, niemanden gegen sich aufzubringen. Daher verzichten sie auch darauf, mit anderen unnötig in Konkurrenz zu treten. Sie wollen sich auf keinen Fall unbeliebt machen, damit sie nicht die Unterstützung anderer verlieren.

Der Vorsichtige bereitet sich auf jedes nur erdenkliche Risiko vor. Zudem vermeidet er unbekannte Situationen und Kontakte, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Auch der Vorsichtige weiß: Selbst bei bester Vorsorge ist auf Dauer nicht zu verhindern, dass wir als Menschen in Notlagen geraten können. Irgendwann müssen wir sogar sterben. Auf dem Weg dorthin stehen uns unausweichlich alle möglichen Krankheits- und Leidenszustände bevor. Aber der Gedanke an die Unwägbarkeiten des Lebens ist für den vorsichtigen Typ unerträglich. Er vermeidet alles und jeden, der ihn an mögliches eigenes Leiden und Sterben erinnern könnte.

Wichtigste Anliegen 

Mit dem anhänglichen Typ teilt sich der vorsichtige Typ ein besonders starkes Be­dürfnis nach Bindung, Vertrauen und Harmonie. Mehr als die meisten anderen Persönlichkeitstypen aber sehnt er sich nach Sicherheit und Geborgenheit. Daher hat er auch ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis, sich gegen Unbekannte abzugrenzen, mitunter sogar abzuschotten. Der Vorsichtige fühlt sich am wohlsten im kleinen Kreis vertrauter Menschen. Er liebt alle Arten von Absicherung, Vorbeugung und Vorsorge. Er ist dankbar für jedes Wort und jede Geste, die ihn beruhigen. Am liebsten würde er von anderen immer wieder glaubhaft hören: „Ich bin für dich da, ich lasse dich niemals allein; alles wird gut, dir kann nichts passieren.“  

Hauptsorge

Der vorsichtige Typ ist ständig ange­spannt und besorgt, insbesondere auch um seine eigene körperliche Unver­sehrtheit. Die üblichen Risiken, denen jeder Mensch im Laufe des Lebens unweigerlich ausgesetzt ist, sind dem Vorsichtigen unerträglich. Er kann sich nicht damit abfinden, irgendwann sterben zu müssen. Er vermeidet es, mit den Krankheiten und dem Tod anderer konfrontiert zu werden. Denn das würde ihn an das eigene Ausgeliefertsein an die Schicksalskräfte erinnern.      

Grundkonflikt

Der vorsichtige Typ will totale Sicherheit. Aber tief im Innern fühlt und weiß er: Nichts und niemand kann ihm diese Sicherheit geben. Deshalb ist er ständig auf der Hut, damit er nicht allein, hilflos und ungeschützt dasteht.

Empfindlichkeiten

Den vorsichtigen Typ werfen Veränderungen der gewohnten Verhältnisse leicht aus der Bahn, vor allem, wenn sie sich seiner Kontrolle entziehen (das hat er mit dem gewissenhaften Typ gemeinsam). Besonders sensibel reagiert der Vorsichtige, wenn er Menschen verliert, die ihm ein Gefühl von Sicherheit vermittelt haben. Es reicht mitunter schon, dass es Unstimmigkeiten und Konflikte mit diesen wichtigen Menschen gibt und er fürchten muss, sich möglicherweise nicht mehr so gut auf sie verlassen zu können wie bisher. Der vorsichtige Typ kann zudem schlecht damit umgehen, wenn er in seinem näheren sozialen Umfeld mit schwerer Krankheit, Unfällen, Todesfällen oder anderen Schicksalsschlägen konfrontiert wird. Alles, was ihn daran erinnert, dass auch ihn ein ähnliches Schicksal ereilen könnte, kann sein seelisches Gleichgewicht erschüttern.  

Gefühlsreaktion anderer

Vorsichtige Typen sind wie die anhänglichen meist angenehme und eher unauffällige Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen. Sie sind kooperativ, zuverlässig und loyal, weil sie diese Qualitäten ja auch von anderen erwarten. Wenn sie mal wieder sehr besorgt sind, rufen sie bei ihren Mitmenschen in der Regel freundliche Anteilnahme hervor. Andere unterstützen, beruhigen und ermutigen sie meist gern. Doch wenn ihre ständige Besorgnis überhandnimmt, fühlen sich andere irgendwann hilflos. Der starke Wunsch nach vollständiger Sicherheit kann bei anderen sogar Ärger und Ablehnung auslösen.     

Schattenaspekte

Normalerweise lernen Kinder im zweiten Lebensjahr, immer besser Phasen der Trennung von der Mutter angstfrei zu ertragen. Sie üben sich darin zum Beispiel beim Spielen, wenn sie sich von der Mutter vorübergehend entfernen und anschließend wieder zu ihr zurückkehren. Sie vergewissern sich, dass die Mutter noch da ist und sie nach ihren kleinen Exkursionen wohlwollend empfängt. Machen sie wiederholt die Erfahrung einer zuverlässig präsenten Mutter, die sich sowohl über die selbstständigen Bewegungen des Kindes von ihr weg als auch über seine Rückkehr freut, dann wächst das Selbstvertrauen des Kindes und auch sein Vertrauen in die Mutter. Es wagt immer längere Trennungen von der Mutter und erträgt auch immer längere Zeiten der Abwesenheit der Mutter. So überwindet es nach und nach die Angst, von der Mutter getrennt zu sein, die bei sehr kleinen Kindern noch völlig natürlich ist.

Vorsichtige Typen haben oft eine überängstliche Mutter gehabt, die es nur schlecht ertragen konnte, wenn sich ihr Kind von ihr entfernte. Entweder schränken solche Mütter die selbstständigen Bewegungen ihrer Kinder stark ein, oder sie vermitteln ihren Kindern (durch Worte oder Gesten), dass sie in ihrer Abwesenheit sehr gelitten haben. Die Kinder lernen, dass ihre kleinen Exkursionen gefährlich sind. Auf diese Weise verhindern ängstliche Mütter (meist ungewollt), dass ihre Kinder das wünschenswerte Vertrauen in sich selbst und ihre soziale Umwelt entwickeln. Die frühkindliche Trennungsangst bleibt bei den vorsichtigen Typen – in einem mehr oder weniger großen Ausmaß – bis ins Erwachsenenalter bestehen.

Vorsichtigen Typen fehlt oft ein gutes inneres Bild von einer Mutter oder einem Vater, die zuverlässig und wohlwollend da waren. Sie hatten keine Eltern, die ihnen als Kind Mut machten, in der Welt etwas zu wagen. Die bei Rückschlägen trösteten und den Rücken stärkten. Die ermunterten, es erneut zu versuchen.

Ohne ein gutes und stabiles inneres Bild zuverlässig wohlwollender und ermutigender Eltern ist es schwer, allein zu sein und allein etwas zu wagen. So sind Vorsichtige immer auf die physische Anwesenheit und Verfügbarkeit anderer angewiesen, die ihre Verlässlichkeit bereits ausreichend bewiesen haben. Ohne eine solche greifbare Unterstützung geraten Vorsichtige leicht in den beängstigenden Zustand, sich selbst zu verlieren.

Vorsichtigen Typen fällt es anders als Anhänglichen eher schwer, sich einer höheren Ordnung, zum Beispiel einer kosmischen oder göttlichen Ordnung, anzuvertrauen. Den Launen des Schicksals ausgeliefert zu sein, leiden und sterben zu müssen, empfinden sie als unerträglich. Niemals können und wollen sie sich mit diesen für sie völlig absurden Bedingungen des menschlichen Daseins abfinden. Sie sind zutiefst wütend darüber, dass ihr Bedürfnis nach absoluter Sicherheit und Geborgenheit in dieser Welt unbefriedigt bleibt. Im Grunde sind sie auf alle wütend, die ihnen nicht die ersehnte unbegrenzte Geborgenheit und Sicherheit garantieren können. Doch sie können die Wut nicht offen zeigen. Wutäußerungen würden ja die Beziehungen, die Vorsichtige so dringend brauchen, noch unsicherer machen.

Also wohin mit der Wut? Oft wird sie – zusammen mit der Selbstverlustangst – auf soziale Situationen oder in den eigenen Körper verschoben. Diese Verschiebung geschieht natürlich nicht bewusst. Sie ist ein Selbstschutzmechanismus einer bedrohten Seele. Es resultieren in schweren Fällen Krankheitszustände wie soziale Phobien, Panikattacken, hypochondrische Ängste oder Organneurosen (zum Beispiel die Angst, an einem Herzinfarkt zu sterben). Doch diese schlimmen Zustände scheinen für viele vorsichtige Typen immer noch erträglicher zu sein, als sich den Tatsachen stellen zu müssen: Dass es – zumindest auf Erden – keine absolute Sicherheit gibt und dass wir Menschen unausweichlich leiden und sterben müssen.

Entwicklungschancen

Das Grundgefühl des vorsichtigen Typs ist das Gefühl von Ungeborgenheit in der Welt, das ihn ständig in Atem hält und dazu drängt, alle erdenklichen Risiken abzusichern. Diese Ungeborgenheit hat damit zu tun, dass auch viele andere Menschen ihre eigene Sicherheit (und die ihrer Familie oder die ihrer Nation) über alles andere stellen. Mit seiner Tendenz, sich abzuschotten, trägt der Vorsichtige ungewollt selbst zu einer Kultur mangelnder Mitmenschlichkeit und Solidarität bei. Das Paradox ist: Seine Angst drängt ihn dazu, gegenüber den meisten Mitmenschen eine scheinbar lieblose Haltung einzunehmen; und er erzeugt so die kalte soziale Wirklichkeit mit, die ihn ängstigt.  

Würdest du dich selbst zu den vorsichtigen Typen zählen? Dann bist du anders als misstrauische Typen (vgl. 7.) Fremden gegenüber nicht grundsätzlich feindselig eingestellt. Unter günstigen Umständen kannst du bei Menschen, die du neu kennenlernst, durchaus aufgeschlossen sein und mit ihnen warm werden. Deine Entwicklungschance besteht in einer neuen Balance: die Balance zwischen deinen berechtigten Schutz- und Abgrenzungsbedürfnissen und einer zunehmenden Öffnung für das Unbekannte, das Neue und potenziell Gefährliche. Wenn es dir gelingt, dein Interesse und deine Anteilnahme Schritt für Schritt über den bisherigen engen Kreis hinaus auszuweiten, hast du gute Aussichten, dass deine Angst abnimmt. Und du kannst so dazu beitragen, dass die Welt vielleicht ein kleines bisschen menschlicher wird.  

 

4. Der gewissenhafte Typ

Wesenszüge

Wie der altruistische Typ hat der gewissenhafte Typ ein hohes Ideal von sich selbst. Er möchte alles besonders gut und richtig machen. Er durchdenkt und plant vieles sehr genau. Was er tut, tut er meist perfektionistisch. Ein hohes Maß an Ordnungssinn, Sparsamkeit, Reinlichkeit, Dis­ziplin, Höflichkeit, Fleiß und Gehorsam gegenüber Vorgesetzten zeichnen den Gewissenhaften aus. Leistung und Verlässlichkeit gehen bei ihm vor Vergnügen.

Regeln und moralische Prinzipien sind dem gewissenhaften Typ besonders wichtig. Ihre Einhaltung erwartet er von sich selbst und von anderen in gleicher Weise. Wenn er selbst mal die von ihm vertretenen Prinzipien verletzt, plagen ihn schwere Gewissensbisse. Wenn andere seine Normen und Werte missachten, tendiert er dazu, ihr Verhalten streng zu verurteilen und harte Konsequenzen zu fordern.

Wichtigste Anliegen 

Der gewissenhafte Typ liebt Regelmäßigkeit und Rituale. Wie den ängstlichen Typ beruhigt es ihn, wenn die Dinge immer wieder in erwarteter Weise ablaufen. Dadurch hat er das Gefühl, dass seine Lebensumstände berechenbar und kontrollierbar sind. Dem Gewissenhaften geht es wie dem altruistischen Typ sehr um die Anerkennung und Wertschätzung von anderen. Dieses Ziel versucht der altruistische Typ zu erreichen, indem er viel für andere tut. Der Gewissenhafte ist dagegen vor allem bestrebt, alles richtig zu machen und sich nichts zu Schulden kommen zu lassen.

Hauptsorge

Der gewissenhafte Typ fürchtet am meisten, etwas falsch zu machen oder wegen einer Unzulänglichkeit angeschuldigt zu wer­den. Er ist deshalb oft übervorsichtig. Angst ver­ursacht beim ihm auch – wie bei dem Vorsichtigen – alles, was die gewohnte Ordnung des Lebens stört oder bedroht. Die Kontrolle zu verlieren und hilflos unberechenbaren Mächten ausgeliefert zu sein, das ist das Horrorszenario für den Gewissenhaften.   

Grundkonflikt

Gewissenhafte sind oft gefangen in einem inneren Konflikt zwischen Macht und Ohnmacht. Einerseits fühlen sie sich Vorgesetzten und Autoritäten gegenüber zu Gehorsam und Loyalität verpflichtet. Andererseits benötigen sie das Gefühl, dass auch sie respektiert und gehört werden. Fühlen sie sich ohnmächtig, neigen sie zur Rebellion. Dann bricht ihre latente Wut auf die Mächtigen unkontrolliert hervor.

Empfindlichkeiten

Wie auch den vorsichtigen Typ werfen den gewissenhaften Typ leicht berufliche und familiäre Unwägbarkeiten und Lebensveränderungen aus der Bahn, vor allem wenn sie sich seiner Kontrolle entziehen. Besonders sensibel reagiert der Gewissenhafte auf den Verlust von Macht und Kontrolle. Aber auch der unerwartete Zuwachs von Macht, zum Beispiel durch eine Beförderung, kann den Gewissenhaften in Bedrängnis bringen. Denn Macht und ihre Ausübung können den Gewissenhaften – anders als den grandiosen Typ (vgl. 8.) – mit seinem überaus strengen Gewissen in Konflikt bringen.

Gefühlsreaktion anderer

Gewissenhafte Typen werden oft geschätzt als Menschen, zum Beispiel als Mitarbeiter oder Partner, auf die man sich besonders verlassen kann. Ihr Pochen auf Genauigkeit und Regeln kann für andere jedoch sehr anstrengend werden. Im Extremfall lähmen sie mit ihrem Geiz, ihrem Perfektionismus und ihrem Kontrollzwang die Lebenslust ihrer Umgebung. Sie erzeugen so in anderen nicht selten jenen unterdrückten Ärger, den sie selbst seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppen.

Schattenaspekte

Gewissenhafte Typen wurden oft streng erzogen. Zu früh wurden ihr natürlicher kindlicher Bewegungsdrang und ihre Spontaneität durch zu viele Verbote und Ermahnungen gehemmt. Zu früh erwarteten beispielsweise die Eltern vom Kind die Beherrschung von Blase und Darm. Zu früh mussten sie sich an die Regeln der Welt der Erwachsenen anpassen. Zu früh wurden von ihnen Ordnung, Sauberkeit und vernünftiges Denken und Verhalten gefordert. In extremen Fällen erlitten sie als Kinder eine rigorose Dressur, deren Ziel es war, den kindlichen Willen und Trotz zu brechen. Oft wurde der äußere Zwang, dem solche Menschen als Kinder ausgesetzt waren, zu einem inneren Zwang, der sie ein Leben lang zu besonderen Leistungen antreibt und ihnen Lust und Spontaneität verbietet.

Wenn ein Kind in seinem natürlichen Selbstbehauptungswillen durch erzieherische Härte gebrochen wird, entstehen in ihm Gefühle von ohnmächtiger Wut. Wenn ein solches Kind seine Wut offen zeigt, droht ihm Bestrafung. Die meisten Kinder passen sich schließlich an und legen das von den Eltern gewünschte Verhalten an den Tag. Sie machen die Forderungen der Eltern zu ihren eigenen und verhalten sich mitunter vorbildlich, wie kleine Erwachsene. Damit erringen sie das Wohlwollen der Eltern, das sie so dringend benötigen. Die Eltern fühlen sich in der Richtigkeit ihres Erziehungsstils bestätigt.

Die ohnmächtige Wut des Kindes gärt jedoch in einem inneren Exil fort. Damit sie nicht nach außen dringt, entwickelt das Kind unbewusste Strategien: Zum einen spürt es seine negativen Affekte nicht mehr. Stattdessen geht es mit Themen, die normalerweise mit starken Gefühlen einhergehen, auffallend rational um. Zum anderen tritt in Situationen, in denen eigentlich ein starkes negatives Gefühl zu erwarten wäre, genau das entgegengesetzte, positive Gefühl auf. Es kann dann zu paradoxen Verhaltensweisen kommen: Ein Kind zum Beispiel, das mit seinen jüngeren Geschwistern um die Gunst der Eltern rivalisiert und bei dem eigentlich ein unfreundliches Verhalten zu erwarten wäre, zeigt sich stattdessen besonders fürsorglich gegenüber den jüngeren Geschwistern.

Entwicklungschancen

Wenn du zu den gewissenhaften Typen gehörst, neigst du ähnlich wie der altruistische Typ dazu, wichtige eigene Bedürfnisse zu vernachlässigen. Dir fällt es schwer, einfach nur da zu sein, im Kontakt mit dir selbst und mit anderen, ohne etwas aktiv zu tun. Zu selten gönnst du dir und anderen Ruhe. Zu selten nimmst du dir die Zeit zu genießen: sei es ein gutes Essen, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit oder andere schöne Dinge des Lebens wie Kunst, Musik und Literatur. Es ist für dich auch nicht leicht, zu träumen und dich deinen Fantasien hinzugeben. Deine hohe Leistungsbereitschaft und dein Pflichtgefühl setzen dich – ähnlich wie den altruistischen Typ – der Gefahr aus, dich zu erschöpfen und auszubrennen.

Daher besteht für dich eine wichtige Entwicklungsaufgabe und -chance darin,   dass du dir selbst und anderen Zeit schenkst, ohne gleich die optimale Lösung für ein Problem liefern oder bekommen zu wollen. Dass du aufmerksam und geduldig zuhörst, um zu erfahren, was einen anderen Menschen wirklich bewegt. Dass du zulässt, dass das, was andere zutiefst bewegt, auch dich bewegt. Dass du in Kontakt mit deinen eigenen Gefühlen kommst. Dass du akzeptierst, dass es nicht für jeden Leidenszustand eine rasche Abhilfe gibt. Dass du erträgst, dich hilflos zu fühlen, und trotzdem dazubleiben.

 

5. Der verführerische Typ

Wesenszüge

Der verführerische Typ ist erlebnishung­rig. Er liebt alles, was schön und sinnlich erregend ist. Er möchte sich und anderen möglichst viel Lust und intensive Gefühle verschaffen. Die Banalität und Gleichförmigkeit des Alltags sind ihm ein Gräuel. Pflichten und Arbeitsroutinen entzieht er sich gerne. Das vernünftige Denken und Handeln der Gewissenhaften sind nicht sein Ding. Große Anstrengungen unternimmt er hingegen, um für andere attraktiv zu sein. So investiert er viel Zeit und Geld in sein Äußeres.

Entsprechend auffallend ist seine Erscheinung. Ganz im Gegensatz zum vorsichtigen Typ legt er es darauf an, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und im Mittelpunkt zu stehen. Zu diesem Zweck inszeniert er sich gerne mit großer Pose, mitunter so, als stünde er auf einer Theaterbühne. Er gibt sich so, wie er glaubt, dass es anderen gefällt. Das gilt auch für die Sexualität. Sexuelle Erregung steigert sein Lebens- und Selbstwertgefühl. Daher verführt er gerne und lässt sich gerne verführen. Einen besonderen Reiz üben auf ihn unerlaubte oder unerreichbare Liebespartner aus. Dabei verschwimmen leicht die Grenzen und können auch mal überschritten werden.

Oft zeichnet sich der verführerische Typ durch einen besonderen Geschmack aus. Entsprechend extravagant gestaltet er sein Wohnumfeld. Man findet ihn gehäuft in jenen Berufen, in denen es vorwiegend um Ästhetik geht, zum Beispiel unter Designern, Künstlern, Modeschöpfern und Friseuren. Einige Vertreter des verführerischen Typs schlüpfen gerne in die Rolle anderer (auch des anderen Geschlechts), die sie bewundern und deren Leben sie aufregender als ihr eigenes finden. So überrascht es nicht, dass der verführerische Typ oft auch unter Schauspielern anzutreffen ist.  

Wichtigste Anliegen 

Der verführerische Typ liebt jede Art von Lust und Genuss. Lust und Genuss sind auch das bevorzugte Mittel, mit dem er andere an sich bindet. Wie der anhängliche Typ möchte der verführerische Typ insbesondere Menschen an sich binden, die er als stärker und lebenstüchtiger erachtet als sich selbst. Wie der Anhängliche lässt er sich gerne von anderen verwöhnen und versorgen. Beim Verführerischen ist es aber die eigene Attraktivität, mit der er diese Menschen in seinen Bann zu ziehen und Rivalen zu übertrumpfen versucht. Er fühlt sich lebendig, solange er andere faszinieren kann und ihnen Gesprächsstoff bietet.

Hauptsorge

Für den verführerischen Typ wäre es schlimm, so leben zu müssen wie vorsichtige und gewissenhafte Typen: unauffällig, angepasst und gefangen in Alltagsroutinen und Pflichterfüllung. Der Verführerische fürchtet sich vor Eintönigkeit und Langeweile, vor einem Leben ohne große Auftritte und ohne besondere Aufmerksamkeit. Eine weitere Sorge ist, dass andere, die ihm nahekommen, hinter seiner schillernden Fassade das entdecken könnten, was er selbst als unzureichend erlebt.

Grundkonflikt

Den verführerischen Typ erregt es, wenn er spürt, dass andere von ihm erregt werden. Mit seiner sexuellen Inszenierung will er andere ja an sich binden und an ihrer vermeintlichen Größe und Stärke partizipieren. Zugleich meidet er eine tiefere Begegnung. Denn er fürchtet, dass andere in seinem Inneren nur auf wenig Attraktives treffen könnten. Dazu kommt, dass ihn bei all seiner Bereitschaft Grenzen zu überschreiten, eine innere Stimme des Gewissens und der Scham fragt, ob es überhaupt anständig ist, was er tut.

Empfindlichkeiten

Der verführerische Typ neigt schnell dazu, tief gekränkt zu sein, wenn seine Attraktivität nicht bestätigt wird und er sich einem Rivalen gegenüber zurückgesetzt fühlt. Es ist für ihn oft schwer, in neue, ernsthafte und verantwortungsvolle Rollen hineinzuwachsen wie zum Beispiel die des Ehepartners, der Mutter oder des Vaters. Denn in solchen Rollen sind die bisherigen oberflächlichen Erlebens- und Selbstbestätigungsmöglichkeiten naturgemäß eingeschränkt. Das gilt auch für das Akzeptieren eines fortgeschrittenen Lebensalters.

Gefühlsreaktion anderer

Der verführerische Typ ist für andere oft spannend und unterhaltsam. Der Kontakt mit ihm ist stimulierend und regt die Fantasie an. Doch kann der Verführerische auch unecht und künstlich, ja mitunter sogar unehrlich wirken. Seine Neigung, zu verführen und Grenzen zu überschreiten, kann andere verwirren, verunsichern und peinlich berühren.

Schattenaspekte

Verführerische Typen fühlten sich als Kinder von ihren Eltern oft vor allem dafür geliebt, dass sie besonders hübsch aussahen und unterhaltsam waren. Sie lernten früh, dass es wichtiger war, attraktiv zu sein, als andere Kompetenzen zu erwerben. Attraktivität entschied darüber, wie viel Ein­fluss sie auf die Eltern (oder wenigstens auf einen Elternteil) hatten und in welchem Ausmaß sie verwöhnt wurden.

Bei verführerischen Typen waren nicht selten die familiären Generationsgrenzen verschwommen: Ein Elternteil schloss mit dem Kind eine Allianz gegen den anderen Elternteil, zu welchem die Gefühlsbindung oberflächlich oder wechsel­haft blieb. Zum Beispiel fühlen sich Väter oft zu ihren Töchtern hingezogen, vor allem wenn die Mutter nach etlichen Ehejahren unattraktiv geworden ist oder nur noch selten Interesse an Sex hat. Es kann auch sein, dass die Mutter beruflich oder gesellschaftlich sehr engagiert ist und deshalb wenig Zeit für Mann und Kinder hat. Es kommt zu einer besonders innigen und verwöhnenden Beziehung zwischen Vater und einer Tochter, die beide genießen.

Schließlich kann die Vertrautheit zwischen Vater und Tochter größer werden als die zwischen den Eltern. Es braucht dabei keine offensichtlichen missbräuchlichen Grenzüberschreitungen. Es reicht, dass die Tochter die Erfahrung macht, eine ungewöhnlich große Bedeutung für den Vater erlangt zu haben, bevorzugt und verwöhnt zu werden. Die Tochter nimmt zu einem erheblichen Teil die Position der Mutter ein. Sie sieht die Mutter zunehmend als Rivalin, die ihr diese Stellung wieder streitig machen könnte. Sie verstärkt ihre Anstrengungen, die Mutter an Attraktivität zu übertrumpfen.

Wenn Kinder so sehr mit ihrer eigenen Attraktivität beschäftigt sind, um einen verwöhnenden Elternteil an sich zu binden, führt das oft dazu, dass sie sich nicht genügend für die Welt außerhalb der Familie interessieren. So können sie wichtige Kenntnisse und Erfahrungen, die zu einem angemessenen Realitätsbezug führen, nicht ausreichend erwerben. Sie setzen sich auch zu wenig mit ihrem eigenen inneren Erleben auseinander. Auf der ständigen Suche nach der erfolgreichsten Rolle können sie nur schwer ein klares Gefühl vom eigenen Ich (einschließlich der eigenen Geschlechtsrolle) gewinnen. Es fehlt zudem oft an einer tiefen zwischenmenschlichen Begegnung mit Gleichaltrigen. So bleibt das Wesen anderer Menschen und ihrer Beziehungen unter­einander verschwommen.

Entwicklungschancen

Erkennst du dich im verführerischen Typ? Dann erwartest du wie der anhängliche Typ alles Glück und Heil im Leben von (einem) anderen Menschen. Auf der sehnsüchtigen Suche nach deiner zweiten Hälfte verliert du dich selbst oft völlig aus den Augen. Mit deinen gewaltigen Anstrengungen, attraktiv zu sein, hast du ja immer sehr viel mehr die anderen im Auge als dich selbst. Mit zunehmendem Alter werden deine Anstrengungen, andere über deine äußerliche Attraktivität zu binden, immer zweifelhafter. Als alternder Playboy oder als Diva nach der x-ten Schönheitsoperation kommst du einfach nur noch peinlich rüber.

Wenn du dich weiterentwickeln willst, musst du deine Liebe zu Schönheit aber keineswegs aufgeben. Deine Entwicklungsaufgabe besteht vielmehr darin, über die vordergründige und vergängliche Schönheit hinaus zeitlosere Dimensionen von Schönheit zu entdecken.  Tatsächlich ist das der Weg, den viele Vertreter des verführerischen Typs gehen. Sie verwandeln ihre sexuelle Lust in eine höhere Form von Sinnlichkeit und beschäftigen sich mit Kunst, Architektur, Design, Mode, Poesie und anderen Formen der Ästhetik. Oft werden sie selbst schöpferisch und gestalterisch aktiv. Welcher Weg passt zu dir?

Wichtig ist, dass es dir gelingt, dich nicht mehr hauptsächlich an deiner Außenwirkung zu orientieren. Suche mehr Kontakt mit dir selbst. Verbinde dich mit deinen ureigenen Bedürfnissen und Antrieben. Verbringe mehr Zeit allein, zum Beispiel in der Natur oder mit Tieren. Das wird dir anfangs vielleicht schwerfallen, weil du ja von Kindheit an anderen Menschen gefallen willst. Halte dich zukünftig an Menschen, die sich von dir nicht beeindrucken und verführen lassen. Suche Kontakt mit Menschen, die sich für den Wesenskern hinter deiner Fassade interessieren. 

 

6. Der impulsive Typ

Wesenszüge

Wie der anhängliche Typ hat der impulsive Typ große Angst, verlassen zu werden. Beide Typen leben mit dem Gefühl, allein nicht bestehen zu können. Sie unternehmen große Anstrengungen, Partner und andere Menschen, auf die sie sich angewiesen fühlen, an sich zu binden. Der anhängliche Typ erreicht dieses Ziel, indem er sich stark anpasst, Konflikte vermeidet und Wut und andere negative Gefühle unterdrückt. Diese Strategie ist dem impulsiven Typ unmöglich. In vielen Situationen fehlt ihm die Kontrolle über seine heftigen Impulse und Affekte. Schon durch kleine Anlässe kann er äußerst wütend werden. Vor allem wenn er sich von einem Menschen, auf den er sich angewiesen fühlt, nicht ausreichend geschützt und unterstützt fühlt, kann sich seine Wut bis zur Gewalttätigkeit gegen andere und gegen sich selbst steigern. Es scheint, als agiere er ohne jede Rücksicht auf die Konsequenzen.

Der impulsive Typ ist der Typ mit den unberechenbarsten Stimmungsschwankun­gen. Auch sein Beziehungsverhalten kann äußerst wechselhaft sein. Er schwankt zwischen zwei Extremen: einerseits die größte Bewunderung und Hingabe für die geliebte Person und andererseits vernichtende Kritik und totale Abwertung derselben Person. Entsprechend instabil und krisengeschüttelt verlaufen seine Beziehungen. Wenn er einen geliebten Menschen zu verlieren droht, unternimmt er alles, um diesen Menschen zurückzugewinnen.

Wie kein anderer Typ leidet der Impulsive unter heftigen Schwankungen seines Selbstwertgefühls. Meist fehlt ihm ein klares Bild von sich selbst, von seiner Identität und seiner Rolle im Leben. Entsprechend konfus sind oft seine Lebensziele. Mangels klarer Ziele fehlt es ihm an Ausdauer. Er wird von wechselnden Impulsen getrieben, die ihm kurzfristig Lust, Verbesserung seines Selbstwertgefühls und Minderung seiner inneren Spannung verschaffen. Er neigt zu exzessiven sexuellen Kontakten mit wechselnden Partnern und zu einem gefährlichen Genuss von Alkohol und anderen Suchtstoffen.  

Wichtigste Anliegen 

Von Platon gibt es eine wunderschöne Fabel, die die Bedürfnisse des impulsiven Typs treffend beschreibt:

Ursprünglich waren die Menschen kugelförmig. Sie waren so stark, vollkommen und glücklich, dass sie den Neid der Götter erregten. Zeus zerteilte durch Blitze jeden Menschen in zwei Hälften. Seitdem sehnte sich jede Hälfte mit unendlichem Verlangen nach der ihr fehlenden Hälfte. Die Götter sahen das furchtbare Leid der Menschen und erbarmten sich. Sie versprachen, dass sich die zwei zueinander gehörigen Kugelhälften wieder vereinen dürften. So sucht jeder Mensch die zu ihm gehörende Hälfte, um sich mit ihr untrennbar zu verbinden. Durch Liebe erkennt er den Menschen, der zu ihm gehört.

Der impulsive Typ sucht bei (einem) anderen den Halt, den er in sich selbst nicht findet. Er verfällt immer wieder in die Seelenverfassung eines verzweifelten Kindes, das sich allein völlig hilflos und schutzlos fühlt. Er sehnt sich danach, wie ein Kind gehalten zu werden. Er will mit seiner Impulsivität und Unberechenbarkeit ausgehalten werden. Er ist zu allem bereit, damit man bei ihm bleibt.

Der impulsive Typ hat eine weitere Sehnsucht, die bei ihm ungleich stärker ausgeprägt ist als bei allen anderen Typen: Er will mit (einem) anderen verschmelzen. Es gibt eine psychologische Theorie, dass Babys sich mit ihren Müttern am Anfang noch als eins erleben. Unter günstigen Umständen erlebt sich auch die Mutter für eine Zeit lang eins mit ihrem Neugeborenen. Der glückselige frühkindliche Zustand des Einsseins mit einem anderen Menschen wird auch als Symbiose bezeichnet.

Erst nach und nach – so die Theorie – erkennt das Baby, dass es eine eigene, von der Mutter verschiedene Existenz hat. Diese Erkenntnis wird als ein wichtiger Schritt der seelischen Reifung des Kindes angesehen: als Beginn seiner Autonomieentwicklung. Impulsive Typen haben diesen wichtigen Entwicklungsschritt offenbar nie vollständig vollzogen. Sie verfallen immer wieder in die Illusion, mit einem anderen seelisch völlig eins zu sein. In den Phasen, in denen sie diese Illusion aufrechterhalten können, sind sie überaus glücklich und können auch in anderen ein beglückendes Erleben von Verschmelzung hervorrufen. Sex, Alkohol und Drogen sind dabei willkommene Hilfsmittel.

Hauptsorge

Wie schon erwähnt fürchtet der impulsive Typ am meisten den Verlust von wichtigen Menschen. Das hat er nicht nur mit dem anhänglichen Typ, sondern auch mit dem ängstlichen Typ gemeinsam. Die Verlustangst ist beim impulsiven Typ aber noch existenzieller als bei den anderen. Es ist ihm, als würde er bei einer Trennung regelrecht vernichtet. Daher geht er nicht selten bis zum Äußersten, um den sich von ihm abwendenden Menschen zurückzugewinnen. Wenn ihm das nicht gelingt, ist er mitunter bereit, sich selbst oder auch den anderen zu zerstören.

Grundkonflikt

Das Eigentümliche am impulsiven Typ ist, dass er – im Gegensatz zu anderen Persönlichkeitstypen– gerade keine inneren Konflikte erlebt, obwohl er sich äußerlich häufig im Konflikt mit anderen befindet. Zwei Seelen wohnen in seiner Brust. Eine sagt: Ich liebe dich bedingungslos als ideales Gegenüber. Die andere sagt: Ich bekämpfe dich hasserfüllt als meinen schlimmsten Feind. Der Impulsive hat kein Gefühl dafür, dass diese beiden entgegengesetzten Haltungen völlig unvereinbar sind. Vom Denken her kann er den Widerspruch durchaus sehen, aber er empfindet ihn nicht. Er erlebt bei Konflikten – anders als die meisten seiner Mitmenschen – keine innere Spannung.

Empfindlichkeiten

Der impulsive Typ ist wie der grandiose Typ (vgl. 8.) überaus leicht kränkbar. Schon durch kleine Unaufmerksamkeiten oder kritische Bemerkungen kann er sich zutiefst verletzt und ungeliebt fühlen. Überhaupt bringen ihn partnerschaftliche oder berufliche Anforderungen aller Art leicht in Bedrängnis, weil er seine Impulse und Affekte so schlecht im Griff hat. Er kann es kaum ertragen, wenn seine Bedürfnisse nach voller Unterstützung und Bestätigung nicht befriedigt werden. Seine Frustrationstoleranz ist sehr gering.

Gefühlsreaktion anderer

Vermutlich hast du beim Lesen den Eindruck gewonnen, dass der impulsive Typ bisher schlecht weggekommen ist. Erstaunlicherweise sind Impulsive aber in der Lage, bei anderen Menschen großes Interesse und starke Anteilnahme auszulösen. Nicht selten geht von ihnen ein hohes Maß an Anziehung aus. Das liegt unter anderem daran, dass sich in der Beziehung zu ihnen alles ungewöhnlich intensiv anfühlt. Wenn sie Beziehungen eingehen, tun sie das mit vollem Engagement. Oft entsteht mit ihnen sehr schnell eine Atmosphäre großer Nähe und Emotionalität. Andere sind nicht selten bereit, sich für sie einzusetzen und sie voll zu unterstützen. Der Kontakt mit ihnen kann sehr schön, anregend und faszinierend sein. Impulsive können einem anderen das Gefühl vermitteln, dass er der wunderbarste und kompetenteste Mensch der Welt ist.

Das geht allerdings nur so lange gut, bis anderen das innere Dilemma des impulsiven Typs um die Ohren fliegt. Dann schlägt das Gefühl tiefer Verbundenheit um in eine qualvolle Betroffenheit, weil der Impulsive plötzlich so unerwartet feindselig reagiert: mit heftigen Vorwürfen und Entwertungen bis hin zu körperlicher Bedrohung. Das hoffnungsvolle, harmonische Miteinander von gestern scheint völlig vergessen; heute geht nur noch Hass von ihnen aus. Ihr Gegenüber kann sich durch so viel Ablehnung und Verachtung regelrecht beschädigt fühlen.

Doch schon steht die nächste Überraschung an: Hat man sich gerade damit abgefunden, dass das Engagement für einen impulsiven Menschen aussichtlos und sinnlos ist, steht dieser wieder freundlich auf der Matte, so als sei nie etwas Trennendes geschehen. Wird der Impulsive auf seine schlimmen Vorwürfe und auf seine negativen Affekte angesprochen, streitet er sie keineswegs ab. Aber er ist dabei völlig unbekümmert. Er kann überhaupt nicht nachempfinden, dass sich andere von seinem Verhalten immer noch erschüttert, verwirrt und verletzt fühlen.

Schattenaspekte

Wie lässt sich der impulsive Typ verstehen? Oft gab es Chaos in der Herkunftsfamilie. Viele Impulsive machten als Kinder traumatische Erfahrungen: Sie erlebten zum Beispiel die Streitigkeiten und die Trennung der Eltern mit. Sie waren Zeugen von Gewalt, oder sie erlitten selbst Misshandlungen oder Miss­brauch. Ein Elternteil oder beide Eltern waren in ihrem Verhalten un­berechenbar. Ein alkoholkranker Elternteil wechselte zwischen zärtlicher Zuwendung und schroffer Ablehnung oder Gleichgültigkeit hin und her.

Was macht ein Kind, das täglich einem unberechenbaren Wechselbad des Beziehungsverhaltens der Eltern ausgeliefert ist? Es schützt sich, so gut es kann, und versucht, seelisch (und bei besonders gewalttätigen Eltern auch physisch) irgendwie zu überleben. Zum Überleben braucht es die Eltern. Das Kind ist darauf angewiesen, selbst zu wenig verlässlichen Eltern eine halbwegs gute Beziehung aufrechtzuerhalten. Aber wie soll es zu einer Mutter, die gestern noch im Suff geprügelt hat, heute eine gute Beziehung haben können?

Kleinkinder können in einem ungünstigen familiären Umfeld wichtige Entwicklungsschritte nicht oder nur unvollständig vollziehen. Es ist sogar möglich, dass sie wieder auf frühere Entwicklungsstufen zurückfallen. Das tun sie natürlich nicht bewusst und vorsätzlich. Vielmehr handelt es sich um eine Notfallreaktion der menschlichen Kinderseele. Äußerlich entwickelt sich das Kind scheinbar normal weiter. Aber ein Teil von ihm klammert sich weiter an die Illusion einer Symbiose mit der Mutter. Sobald die Mutter dazu fähig und bereit ist, lässt sich das Kind immer wieder darauf ein, mit ihr erneut zu verschmelzen. Für das Kind sind das kostbare Augenblicke, in denen es – wenn auch nur vorübergehend – Geborgenheit und Glück erleben kann.

Die Illusion funktioniert selbstverständlich nur, wenn all die realen schmerzvollen Erfahrungen mit der Mutter vorübergehend ausgeblendet werden können. Und genau das kann der impulsive Typ wie kein anderer. Im Gefühlsleben des Impulsiven gibt es wie bei einem Kleinkind zwei völlig verschiedene Mütter: die gute, mit der Verschmelzung und Symbiose möglich ist, und die böse Mutter, die nur schlecht ist. Impulsive haben einen wichtigen Entwicklungsschritt nicht vollzogen: die Erkenntnis, dass die geliebte und die gehasste Mutter ein und dieselbe Person ist. Die radikale Art, mit der impulsive Typen ihre guten und schlechten Erfahrungen mit ein und derselben Person auseinanderhalten, wirkt auf andere oft derart schroff, dass die Psychologie hier von „Spaltung“ spricht. Voneinander „abgespalten“ sind auch die positiven und negativen Gefühle, die mit den guten und schlechten Erfahrungen verbunden sind.

Diese Erklärung ist vielleicht etwas kompliziert. Aber sie hilft uns zu verstehen, warum Impulsive andere Menschen so häufig entweder nur gut oder nur schlecht erleben. Warum sie andere entweder total idealisieren oder total abwerten. Wir verstehen auch, warum impulsive Typen so verzweifelt dagegen ankämpfen, verlassen zu werden: Sie verfallen leicht in das innere Erleben eines Kleinkindes, das noch völlig auf seine Eltern angewiesen ist. Schließlich wird auch nachvollziehbar, warum sie so zerstörerisch hassen können. Der Hass, den sie aus nichtigem Anlass auf eine Person richten, gilt eigentlich dem abgespaltenen inneren Bild der bösen Mutter. Daher enthält ihr Hass so oft auch eine gefährliche Portion an Selbsthass.

Entwicklungschancen

Impulsive Typen haben eine geradezu verzweifelte Sehnsucht, mit einem idealen Partner zu verschmelzen. Für Platon bestand die Lösung vor 2400 Jahren darin, dass jeder irgendwann den einzigen Menschen findet, der ganz genau zu ihm passt. Auch heute befinden sich zahllose Singles auf der Suche nach dieser perfekten anderen Hälfte. Ihnen stehen die modernsten digitalen Möglichkeiten zur Verfügung, um ihre Chancen zu optimieren. Aber der Glücksfall, den genau passenden Partner zu finden und mit ihm dauerhaft zusammenzuleben, ist eher die Ausnahme als die Regel. In den Industrieländern werden rund 40 bis 60 Prozent der Ehen wieder geschieden.

Es ist unwahrscheinlich, dass uns ein anderer Mensch auf Dauer all das geben kann, was uns selbst fehlt. Es ist auch unwahrscheinlich, dass die Liebe eines anderen Menschen all die Entbehrungen und Verletzungen, die wir seit unserer Kindheit erfahren haben mögen, auf Dauer heilen kann. Bis vor einigen Jahren gab es in der modernen Ratgeber-Literatur noch den Trend zur Empfehlung, Selbstliebe zu kultivieren – nach dem Motto: „Liebe dich selbst, und es ist egal, wen du heiratest“.

Ein solcher gut gemeinter Rat übersieht etwas Entscheidendes: Selbstliebe entwickelt sich biografisch auf der Grundlage von zwischenmenschlichen Erfahrungen: Wenn du durchgängig die freundliche Aufmerksamkeit deiner Eltern erleben durftest und wenn du dich von ihnen um deiner selbst willen wertgeschätzt fühlen konntest, war es für dich viel leichter, die Fähigkeit zu entwickeln, dich selbst zu lieben, als wenn du psychisch kranke, überforderte, gefühlskalte, unberechenbare, gewalttätige oder grenzüberschreitende Eltern hattest.

Was machst du, wenn du aus eigener Kraft nicht freundlich auf dich selbst schauen kannst? Wenn du dich beim besten Willen nicht selbst lieben kannst? Dann bist du stark auf andere angewiesen, die es gut mit dir meinen und dich unterstützen. Halte dich an Menschen, die nicht deiner Einladung folgen, mit dir ganz und gar zu verschmelzen. Verschmelzung mag kurzfristig zu ekstatischen Glückszuständen führen. Am Ende steht aber oft eine Liebesenttäuschung, vor allem dann, wenn die Verschmelzung mit schnellem Sex, mit Alkohol und mit Drogen erkauft ist.

Es nützt auch wenig, wenn du dich gegen deinen Trennungsschmerz schützt, indem du an dem Liebespartner, von dem du dich enttäuscht fühlst, nichts Gutes lässt. Die totale Abwertung anderer offenbart im Grunde nur, wie wenig du von dir selbst hältst. Es nützt auch nichts, dich immer wieder in neue Liebesabenteuer zu stürzen. Denn jede neue Liebesenttäuschung reißt ja nur alte Wunden auf oder verfestigt alte Narben.

Wenn du bei dir selbst ein impulsives Muster erkennst, bei wem kannst du die geeignete Unterstützung finden, um aus dem Gefängnis deiner bisherigen Muster herauszufinden? Was kannst du tun, wenn du dich in einen impulsiven Typ verliebt hast oder mit einem impulsiven Typ bereits zusammenlebst?

Wenn du selbst ein impulsiver Typ bist, ist deine Bedürftigkeit und Kränkbarkeit vermutlich so groß, dass ein einzelner mit dir auf Dauer wahrscheinlich überfordert ist. Wenn du in einer Beziehung mit einem Impulsiven bist, erliege bitte nicht der Illusion, dass du allein auf Dauer der ideale Helfer oder Therapeut für ihn sein kannst. Wirklich getragen und gehalten wirst du als impulsiver Typ eher in einem Netzwerk von wohlwollenden Menschen. Das können ein Freundeskreis, eine Kirchengemeinde, in schweren Fällen auch ein Team von Therapeuten sein. Gemeinschaftliche Lebensformen mit klar definierten Werten und Regeln sind eine weitere Möglichkeit.

Ob du nun selbst impulsive Anteile hast oder ob du es mit einem impulsiven Menschen zu tun hast, denke an das, was ich als Spaltung beschrieben habe. Als Impulsiver neigst du dazu, andere entweder sehr positiv oder sehr negativ zu sehen. Als Bezugsperson eines impulsiven Typs denke daran, dass das ideale Bild, das der Impulsive von dir hat, innerhalb kurzer Zeit (Stunden oder Tage) in sein Gegenteil umschlagen kann. Als Impulsiver tendierst du zum Schwarzweißdenken. Es fällt dir schwer, die üblichen Grautöne zu sehen, die zwischen den Extremen liegen.

Die Menschen, die dich lieben oder dich unterstützen, müssen wissen, dass du als impulsiver Typ nicht anders kannst, als in Extremen zu fühlen. Du kannst vieles einfach (noch) nicht besser als so, wie du es tust. Dir fehlen wichtige USA-Fähigkeiten. Als impulsiver Mensch kannst du vor allem nicht sehr gut deine Impulse und Affekte kontrollieren. Du wirst schneller und stärker von Selbstzweifeln, Ängsten und anderen schlechten Gefühlen überschwemmt als andere. Der Umgang mit dir kann dadurch für andere eine echte Herausforderung sein. Es ist wichtig, dass andere verstehen, dass dein impulsives Verhalten nicht vorsätzlich feindselig ist. Du benötigst von anderen viel Verständnis, Nachsicht und Geduld. Aber auch du selbst kannst anfangen, viel freundlicher und verständnisvoller auf dich selbst zu schauen. 

 

7. Der misstrauische Typ

Wesenszüge

Der misstrauische Typ wird von allen Typen am stärksten von dem Grundgefühl geleitet, sich in einer feindseligen Umwelt behaupten zu müssen. Besonders gefährlich scheint ihm alles Fremde und Unbekannte. Am liebsten verlässt er sich nur auf Menschen, mit denen er möglichst viel gemeinsam hat, zum Beispiel Überzeugungen, Religion, Hautfarbe, Nationalität und soziale Herkunft. Aber auch diesen vertraut er nicht wirklich. Eigentlich sucht er keine Vertrauten, sondern Verbündete, um einen gemeinsamen Feind abzuwehren.

Von außen betrachtet funktioniert der misstrauische Typ gut. Er kann sich gut an den gesellschaftlichen Mainstream anpassen. Innerlich aber bleibt er oft einsam. Er ist leicht verletzbar und fürchtet, von anderen angegriffen oder beschuldigt zu werden. Daher neigt er dazu, sich zu verschließen. Nicht selten bezieht er alles auf sich, als ob die ganze Welt gegen ihn wäre. Neutrale und sogar freundliche Handlungen interpretiert er als feindselig oder abwertend. Es fällt ihm schwer, eigene Fehler einzugestehen. Er sucht die Verantwortung lieber bei anderen.

Wichtigste Anliegen

Wie der ängstliche Typ hat der misstrauische Typ ein gesteigertes Bedürfnis nach Sicherheit. Ängstliche stellen sich am liebsten mit allen gut, um sich ja keine Feinde zu schaffen und um sich bei Gefahr auf ein möglichst gut funktionierendes Netzwerk gegenseitiger Unterstützung verlassen zu können. Misstrauische schließen sich lieber mit Gleichgesinnten gegen vermeintliche Feinde zusammen. Sie erwarten von ihren Verbündeten absolute Vertrauenswürdigkeit. Auch sie selbst sind bereit, treu zu den gemeinsamen Überzeugungen und Zielen zu stehen. Symbole, Rituale und einfache Glaubensformeln, die möglichst häufig gemeinsam wiederholt werden, verstärken den Gruppenzusammenhalt und das Gefühl von Wehrhaftigkeit gegen die Bedrohungen aus der Außenwelt. Je stärker sich der misstrauische Typ auf seine Verbündeten verlassen zu können glaubt, desto sicherer fühlt er sich.

Hauptsorge

Viele Menschen neigen dazu, potenzielle Gefahren zu verdrängen, um nicht ständig beunruhigt zu sein. Beim ängstlichen und beim misstrauischen Typ ist es umgekehrt: Bei ihnen ist die Aufmerksamkeit für alle möglichen Gefahrenmomente ausgeprägt, und sie machen sich entsprechend viele Sorgen. Während sich der Ängstliche mehr vor Schicksalsschlägen wie zum Beispiel schwerer Krankheit fürchtet, fühlt sich der Misstrauische eher von konkreten Menschen und Menschengruppen bedroht. Besonders beunruhigend wirkt auf ihn dabei alles Unbekannte und Fremdartige.

Grundkonflikt

Der misstrauische Typ sehnt sich wie kaum ein anderer nach Menschen, denen er absolut vertrauen kann. Daher sucht er verzweifelt nach Gleichgesinnten, mit denen er sich verbünden kann. Aber ein Bündnis funktioniert nur, solange es ein klares Feindbild gibt. Fällt ein solches Feindbild weg, erkennen Verbündete schnell, dass die Symbole, Rituale und Glaubensformen, die bisher eine Illusion von Gemeinsamkeit erzeugen konnten, nicht mehr tragen. Ohne Feindbild werden schnell die unterschiedlichen Bedürfnisse, Interessen und Überzeugungen der Bündnispartner offenbar. Plötzlich wird der bisherig Vertraute zum andersartigen Fremden und schließlich vielleicht sogar zum Feind.

Empfindlichkeiten

Um die Illusion von Gemeinsamkeit aufrechtzuerhalten, darf der misstrauische Typ seine Verbündeten nicht allzu genau kennenlernen. Insofern stellen intime Beziehungen, in denen die Eigenheiten und Andersartigkeiten eines Freundes oder Liebespartners unweigerlich offenbar werden, eine große Herausforderung für den misstrauischen Typ dar. Besonders hart trifft es ihn, wenn jemand, den er bisher als Verbündeten angesehen hat, nicht mehr zu den gemeinsamen Überzeugungen und Zielen steht. Der Misstrauische erlebt das als schlimmen Vertrauensbruch.

 

Gefühlsreaktion anderer

Wer einen misstrauischen Typ näher kennenlernt, wird früher oder später mit dessen tiefsitzender Feindseligkeit konfrontiert. Die Sorgen der Misstrauischen sind zum Teil durchaus nachvollziehbar. Aber wie beim impulsiven Typ fehlen die Grautöne. Die generelle Wut auf alles, was die vertraute Lebenswelt bedrohen könnte, ist schwer auszuhalten, sofern man nicht selbst die Abneigung gegen alles Fremdartige und Unbekannte teilt. Hinzu kommen die Radikalität und Einseitigkeit, mit welcher der misstrauische Typ fremde Menschen und Kulturen als gefährlich oder sogar der eigenen Kultur gegenüber minderwertig ansieht. Nach den furchtbaren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sind nationalistische, antieuropäische, klassen- und fremdenfeindliche Töne kaum mehr zu ertragen. Eine sachliche Diskussion ist mit Misstrauischen aber oft nicht möglich. Denn wer ihre Überzeugungen hinterfragt, gerät schnell in den Generalverdacht, zum feindlichen Lager zu gehören.

 

Schattenaspekte

Wie der gewissenhafte Typ hat auch der misstrauische Typ als Kind häufig erzieherische Härten und Lieblosigkeiten erlitten. Er wurde zum Beispiel von wenig einfühlsamen Eltern viel zu früh wie ein kleiner Erwachsener für Fehler und Missgeschicke in die volle Verantwortung gezogen und mit tagelanger Nichtbeachtung bestraft. Die Eltern waren oft selbst misshandelte Kinder, die viel zu wenig darin bestärkt worden waren, gute und liebenswerte Menschen zu sein. So überträgt sich von Generation zu Generation Feindseligkeit, auch den eigenen Kindern gegenüber.

Diese Feindseligkeit und die unterschwellige Aggression innerhalb der Familie werden den Familienmitgliedern in der Regel nicht bewusst. Denn wie die impulsiven Typen blenden die misstrauischen Typen schmerzvolle Aspekte ihrer Lebenswirklichkeit aus, was in der Psychologie „Abwehr“ heißt. Wie bei den vorsichtigen Typen gilt für den misstrauischen Typen die Familie als der einzige wirklich sichere Ort auf der Welt. Negative Gefühle der Kinder gegenüber ihren Eltern würden die lebenswichtige Bindung zu ihnen infrage stellen. Wie aber wird der Misstrauische seine Wut auf die Eltern und das von ihnen erlittene Unrecht los?

Es gelingt durch einen nicht bewussten, also in keiner Weise vorsätzlichen seelischen Mechanismus, der in der psychologischen Literatur als „Projektion“ bezeichnet wird. Wie ein Filmprojektor im Kino die kleinen Bilder auf der Filmrolle auf eine weit entfernte Leinwand wirft (projiziert), damit diese dort als große bewegte Bilder sichtbar werden, so kann die menschliche Seele ihre innere Wirklichkeit in die Außenwelt projizieren. Die eigene Feindseligkeit und die eigene Aggression werden plötzlich übergroß in anderen Menschen sichtbar. Die innerhalb der Familie unterdrückte Aggression kann sich jetzt hemmungslos gegen die vermeintlich bösen anderen Menschen entladen.

Der Mechanismus der Projektion ist nicht nur bei einzelnen misstrauischen Typen zu beobachten. Er kann soziale Gruppen oder sogar ganze Nationen erfassen, die sich dann mit kollektiver Begeisterung in einen mörderischen Kampf gegen andere Nationen und Ethnien stürzen. Der Mechanismus der Projektion erklärt wenigstens zum Teil das Unfassbare: Dass so viele ja eigentlich kultivierte Menschen, die alle von Kindheit an das Gebot „du sollst nicht töten“ kennen, in einer irrationalen und selbstzerstörerischen Weise gewaltbereit werden können. In jedem von uns steckt die unbewusste Bereitschaft, die Feindseligkeit und Aggression, die wir in uns selbst nicht gerne wahrhaben wollen, in anderen (die uns als Projektionsfläche dienen) wiederzufinden und in ihnen zu bekämpfen. Das ist psychisch zwar sehr entlastend und in einem gewissen Sinn sogar natürlich. Aber um die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit zu lösen, ist dieser Mechanismus völlig untauglich.

Entwicklungschancen

Misstrauische Typen können sich für eine Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, bis zum Äußersten engagieren. Sie sind bereit, ihre Familie oder ihre Nation bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen. Aber der Preis ist hoch: Denn die Treue zur eigenen Gruppe oder Nation ist meist mit Gefühllosigkeit und Hass gegenüber allen, die nicht dazugehören, verbunden. Blindheit besteht für die Leichen im eigenen Keller. Auf dieser Grundlage lässt sich kein dauerhafter Frieden finden, weder im Äußeren noch im Inneren.

Der Mechanismus der Projektion betrifft jeden von uns. Er ist tief in uns verankert – vielleicht sogar genetisch, weil er in der Evolution einstmals Vorteile hatte. Projektion findet zudem nicht nur im Einzelnen statt. Sie entfaltet ihre volle Wucht erst innerhalb von Gruppen und zwischen Nationen. Fatal an Projektionen ist, dass sie eskalieren können. Die durch Projektion entfesselte Gewaltbereitschaft des Gegners stachelt die eigenen Projektionen an. Dadurch wird wiederum die eigene Gewaltbereitschaft erhöht, was Wasser auf die Mühlen der Projektion des Gegners ist.

Projektion wird durch Angst angeheizt. Projektion und Feindseligkeit nehmen zu, wenn es Menschen wirtschaftlich nicht gut geht, wenn sie ihre Existenzgrundlage oder ihre Sicherheit bedroht sehen und wenn sie sich mit ihren vitalen Anliegen nicht gehört fühlen. Wenn wir die Spirale gegenseitiger Projektion durchbrechen möchten, geht das nur, wenn wir die Sorgen unserer Mitmenschen und vor allem die unserer Gegner ernstnehmen – auch ihre irrationalen Ängste.

Hinter Ängsten – und seien sie auch noch so bizarr – stehen in der Regel nachvollziehbare Bedürfnisse. Das gilt auch für unsere eigenen Ängste, die aus der Sicht anderer irrational scheinen mögen. Am Ende kommen wir nicht darum herum, dass wir uns immer wieder um Verständigung bemühen. Dass wir erkennen, was uns voneinander unterscheidet und was uns verbindet.

 

8. Der grandiose Typ

Wesenszüge

Der grandiose Persönlichkeitstyp ist davon überzeugt, etwas Besonderes zu sein oder zu leisten. Daher erwartet er von anderen ganz selbstverständlich die bevorzugte Behandlung, die ihm vermeintlich zusteht. Nicht selten entwickelt er außergewöhnliche Fähigkeiten, mit denen er sich die Bewunderung anderer sichern kann. Manchmal gelingt es ihm mit Hilfe dieser Fähigkeiten sogar, berühmt zu werden. Als Pop-, Film-, Sport- oder Politstar werden ihm dann tatsächlich die privilegierte Position und Behandlung zuteil, die zu seinem überhöhten Selbstbild passen. Andere Grandiose stützen ihr Gefühl von Erhabenheit auf Dinge wie Herkunft, Geld, Statussymbole, Bildung, besondere Erfahrung, Aussehen oder außergewöhnliche Empfindungstiefe.

Eine weitere Möglichkeit ist die Flucht in die Fantasie. Nicht wenige grandiose Typen fühlen sich als noch nicht erkannte Talente oder Genies. Sie warten auf ihren großen Durchbruch – manchmal jahrzehntelang. Sie malen sich immer wieder ihren unbegrenzten Erfolg, die damit verbundene Macht und die große Ehrerbietung aus, die andere ihnen dann endlich entgegenbringen. Eine andere Strategie besteht darin, jede Möglichkeit zu nutzen, berühmten oder gesellschaftlich hoch gestellten Menschen nahe zu sein und an ihrem Glamour teilzuhaben. Man kann sich zum Beispiel als etwas Besonderes fühlen, weil man einen Promi kennt oder im gleichen Restaurant speist. Viele Grandiose nutzen jede Beziehung und jede sich bietende Gelegenheit, um Eindruck zu schinden und sich als etwas Besseres fühlen zu können.

Wichtigste Anliegen 

Der grandiose Typ sehnt sich danach, von Bewunderern kritiklos geliebt zu werden. Er will in jeder Hinsicht bevorzugt werden und privilegiert leben. Das Beste ist für ihn gerade gut genug. Von anderen erwartet der Grandiose besondere Rücksichtnahme und Unterstützung. Er liebt es, wenn man ihm bedingungslos dient. Oft mangelt es ihm an Empathie und Mitgefühl für die Bedürfnisse und die Gefühle anderer. Daher hat er auch keine Probleme damit, Beziehungen auszunutzen und auf Kosten anderer zu leben.

Hauptsorge

Der grandiose Typ fürchtet sich am meisten vor einer untergeordneten oder bedeutungslosen Position in der sozialen Rangordnung. Einer von vielen anderen zu sein und in der Masse unterzugehen, ist ihm ein unerträglicher Gedanke.  

Grundkonflikt

In seinem Verlangen, edler, schöner, reicher, extravaganter oder berühmter als andere zu sein, steht der grandiose Typ ständig unter Druck, etwas noch Ungewöhnlicheres darzustellen. Das Erreichte ist nie genug. Nie kommt er zur Ruhe. Nie ist er zufrieden. Unersättliches Verlangen nach noch mehr, noch größer, noch ausgefallener treibt den Grandiosen vor sich her. Im Extremfall ist ihm jedes Opfer recht. Rücksichtslos beutet er dann sich selbst und alle verfügbaren Ressourcen aus.

Empfindlichkeiten

Der grandiose Typ ist besonders verletzlich gegenüber Kritik und Zurückweisung. Denn oft beruht seine grandiose Selbstinszenierung auf einem ausgesprochen selbstunsicheren Persönlichkeitskern, der es nicht erträgt, in Frage gestellt zu werden. In Situationen, in denen der Grandiose seine Schwächen und Unzulänglichkeiten nicht mehr überspielen kann und in denen andere ihm die bisherige Unterstützung versagen, besteht die Gefahr, dass die grandiose Selbstinszenierung implodiert und in Richtung massiver Selbstzweifel und Selbstvorwürfe umschlägt. Schwer wird der grandiose Typ oft auch mit den nachlassenden Kräften und mit der geringeren Attraktivität bei fortschreitendem Alter fertig.

Gefühlsreaktion anderer

Grandiose Typen haben manchmal tatsächlich herausragende Fähigkeiten oder Qualitäten, für die andere sie zu Recht bewundern. Vor allem die Grandiosen, denen es gelingt, berühmt zu werden, sind oft von Fans umgeben, die fast zu allem bereit sind, um in der Nähe ihres Stars sein zu können. Die meisten grandiosen Typen werden aber nicht berühmt und erreichen nicht die ersehnte privilegierte Position. Sie kompensieren das oft durch eine Selbstinszenierung, die auf den ersten Blick durchaus beeindruckend sein kann, aber nicht selten substanzlos und zum Beispiel auf Pump finanziert ist. Bald wird das Fassadenhafte dieser Inszenierung sichtbar oder spürbar. Müdigkeit, Langeweile, Leere oder sogar Ärger können sich einstellen, weil andere das Gefühl haben, dass sich der Grandiose gar nicht wirklich für sie interessiert, sondern sie nur als Spiegel für seine Selbstdarstellung benutzt.

Schattenaspekte

Grandiose Typen wurden als Kinder oft vergöttert und übertrieben verwöhnt, weil die Eltern hofften, dass sich ihre eigenen unerfüllten Ambitionen in ihrem Kind verwirklichen würden. Auf solchen Kindern lastet die Erwartung außergewöhnlicher Eigenschaften, die aber mehr der Wunschvorstellung der Eltern als den tatsächlichen Anlagen des Kindes entsprechen. Das Kind lebt mit der Sorge, die Gunst der Eltern zu verlieren, wenn es ihren hohen Erwartungen nicht entspricht. Viele grandiose Typen konnten sich daher als Kinder nicht wirklich um ihrer selbst willen geliebt fühlen. Sie konnten keine echte Selbstliebe und kein realistisches Selbstbild entwickeln. Hinter ihrem aufgeblähten Ego und ihrer ständigen Selbsterhöhung verbergen sich in Wirklichkeit ein starker Mangel an Selbstwertgefühl und tiefe Selbstzweifel. Denn sie scheitern im Laufe ihres Heranwachsens oft nicht nur an den überzogenen Ansprüchen ihrer Eltern, sondern auch an denen der Gesellschaft, die Selbstüberhöhung in der Regel nicht schätzt. Außerhalb der Familie fällt zudem die gewohnte Verwöhnung durch die Eltern weg. Wenn grandiose Typen mit der Realität des Lebens konfrontiert werden, sind sie oft starken Frustrationen und Kränkungen ausgesetzt.

Entwicklungschancen

Grandiose Typen würden sich durch ihre Taten oder Werke am liebsten unsterblich machen. Extreme Vertreter dieses Typs ließen sich sogar wie Gottheiten verehren. Bekannte Beispiele der Geschichte sind Alexander der Große und Julius Cäsar, die durch rücksichtslose Eroberungsfeldzüge die Welt veränderten und sich damit ewigen Ruhm erwerben konnten. Heutzutage sind es eher Pop-, Film- und Sportikonen, die von den Massen vergöttert werden. Erfolg, Bewunderung, Geld, Macht und Privilegien sind wie Drogen, die uns vergessen lassen, wie vergänglich all das ist, auf das wir so stolz sind.

Wie sieht es mit deiner grandiosen Seite aus? Hast du das Gefühl, etwas Besseres als andere zu sein? Glaubst du, dass dir mehr zusteht als anderen? Willst du durch außergewöhnliche Werke glänzen? Strebst du nach Macht und großem Besitz? Versuchst du, deinen Selbstwert durch ein tolles Image oder großartige Taten aufzupolieren? Was gibt dir das Gefühl, herauszuragen und mehr wert zu sein als andere? Wodurch fühlst du dich anderen überlegen? Auf welche Weise willst du dich unsterblich machen?

Vielleicht hast du in deinem Beruf eine Position erreicht, in der scheinbar nichts ohne dich geht. Vielleicht hast du die Überzeugung, der einzig wahren Religion anzugehören und den einzig wahren Gott anzubeten. Oder gehst du den buddhistischen Weg und versuchst, das menschliche Leiden zu überwinden, indem du dich perfekt in Leidenschaftslosigkeit trainierst? Vielleicht hast du das erhabene Gefühl, dein Ego bereits überwunden zu haben und erleuchtet zu sein. Vielleicht bist du hochbegabt oder hochsensibel, und dein ganzes Selbstverständnis gründet darin, dass du etwas ganz Besonderes bist.

Spätestens wenn wir sterben, nutzt uns all das, was wir an sozialem Status erreicht haben, nichts mehr. Wir müssen alles zurück- und loslassen, auch unser Streben nach Überlegenheit und Besonderheit. Gibt es in der Tiefe unserer Seele, unabhängig von dem, was wir im Leben erreicht haben oder darstellen, einen beständigen und zeitlosen Wert? Gibt es etwas, das uns Würde verleiht, egal wie viel wir haben oder leisten können? Etwas, das uns auch dann noch trägt, wenn wir arm, krank, alt und gescheitert sind?

Seit Jahrtausenden betonen die großen Weisheitslehren und Religionen der Menschheitsgeschichte, dass es in unserem Leben letztendlich auf etwas anderes ankommt als auf all das Vergängliche, das uns jeden Tag so sehr in Atem hält. Diese Lehren verweisen auf eine Wirklichkeit, die wir nicht sehen und hören und mit unserem Verstand nicht begreifen können. Die sich unserem Willen entzieht, die wir nicht planen und kontrollieren können. Die nicht den Gesetzen von Raum und Zeit unterworfen ist. Die aber verlässlich da ist, wenn wir uns für sie öffnen.

Die verschiedenen Weisheitslehren und Religionen kennen unterschiedliche Wege, mit dieser anderen Wirklichkeit in Kontakt zu sein. In allen großen Weltreligionen spielen die gemeinsame Ausrichtung auf etwas Höheres, kultische Rituale und Gebete, heilige Texte und die Beachtung von ethischen Regeln eine große Rolle. Ebenso sind Gemeinschaft, Mitgefühl, achtsamer Umgang miteinander, Gerechtigkeit, gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung wichtig. Auch ohne Religion kannst du diese andere Dimension des Seins erfahren. Wesentlich ist, dass du – wenigstens zeitweise – aus deinen gewohnten Alltagsroutinen aussteigst.

Das kann eine Meditation, eine Achtsamkeitsübung oder ein Spaziergang in der Natur sein. Wichtig ist, innezuhalten, mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu sein, dich dem Fluss des Lebens hinzugeben oder in einer Tätigkeit aufzugehen, die du wirklich liebst und die du nicht tust, um etwas zu erreichen. Beschäftige dich mit Dingen, bei denen du dich selbst vergessen kannst, zum Beispiel mit Kunst, Musik, guten Büchern oder Filmen, die Dich berühren. Verbringe mehr Zeit mit Menschen, denen deine gesellschaftliche Stellung egal ist.

 

9. Der grollende Typ

Wesenszüge

Der grollende Persönlichkeitstyp ist vom Leben zutiefst enttäuscht. Er glaubt, dass ihm das Schicksal übel mitgespielt hat. Er lebt mit dem Gefühl, dass ihm ein paradiesischer Urzustand in der Kindheit unwiederbringlich verloren gegangen ist. Vordergründig verhält er sich angepasst und hält soziale Regeln ein. Aber indirekt lässt er seine Mitmenschen die Tiefe seiner Verbitterung spüren, zum Beispiel in Form von Distanziertheit und Zynismus gegenüber seiner Umwelt. Oder er leistet passiven Widerstand, indem er langsamer und schlechter arbeitet als es ihm möglich ist. Unterschwellig sind in allem seine stille Klage über sein eigenes Unglück präsent und sein Neid auf andere, die vermeintlich mehr Glück haben als er.

Wichtigste Anliegen

Der grollende Typ will seine soziale Umgebung an seinem Unglück beteiligen. Andere sollen spüren, wie sehr er leidet. Das würde er selbst so nie ausdrücken. Aber sein ganzes Verhalten spricht dafür, dass es ihm eine gewisse Genugtuung oder Entlastung verschafft, wenn er andere indirekt mitleiden lässt. Die anderen sollen, egal ob schuldig oder nicht, für das erlittene Unrecht büßen – und zwar dafür, dass ihm genommen wurde, was er so dringend gebraucht hätte.

Hauptsorge

Der grollende Typ fürchtet sich davor, andere offen ins Unrecht zu setzen oder aktiv für sein vermeintliches Recht zu kämpfen (was der gewissenhafte Typ besonders gut kann). Zugleich befürchtet er, dass sein Gefühl von erlittenem Unrecht unbemerkt und er damit allein bleibt.

Grundkonflikt

Der grollende Typ kann das Unrecht, dass ihm widerfahren ist, nicht klar benennen. Anders als zum Beispiel Opfer von Krieg, Vertreibung, Missbrauch oder Misshandlungen kann er auf keine offensichtlichen Straftaten und eindeutige Täter verweisen. Die Ereignisse und Umstände, die nach seiner Meinung zu seiner Benachteiligung geführt haben, werden von anderen oft als die ganz „normalen“ Widrigkeiten des Schicksals angesehen. Der grollende Typ wird auf seine Klagen vielleicht schon oft gehört haben: „Stell‘ dich nicht so an.“, „Hab‘ dich nicht so.“, „Was beklagst du dich?“, „Andere haben es viel schwerer.“

Aus der psychodynamischen Psychotherapie wissen wir, dass es nicht nur die offensichtlichen Härten des Lebens sind, die zu seelischen Leidenszuständen führen, sondern oft auch kaum wahrnehmbare Faktoren. Zum Beispiel können Zurücksetzung, Übersehen-Werden oder eine unbeabsichtigte Kränkung von empfindsamen Menschen als schwerwiegende Katastrophe erlebt werden und seelische Symptome und ernste Krisen auslösen.

Empfindlichkeiten

Der grollende Typ ist besonders sensibel für Situationen, in denen er sich erneut zurückgesetzt oder benachteiligt fühlt. Dabei ist es relativ unerheblich, ob das Gefühl von Zurücksetzung oder Benachteiligung objektiv gerechtfertigt ist. Möglicherweise hat der grollende Typ selbst die Benachteiligung, die er beklagt, durch sein eigenes, passiv-aggressives Verhalten überhaupt erst provoziert. Aber genau das wird er schwer einsehen können.

Gefühlsreaktion anderer

Die Bitterkeit des grollenden Typs ist nicht so leicht auszuhalten. Wer sich aber auf seine innere Welt einlässt, wird vielleicht Mitgefühl für seine tiefe Enttäuschung über das Leben entwickeln können. Mit sachlichen Argumenten ist dem grollenden Typ und seiner selbstquälerischen Haltung zum Leben und zu anderen Menschen kaum beizukommen. Am ehesten hilft ihm, wenn es anderen gelingt, seine besondere Innenperspektive erst einmal unwidersprochen stehen zulassen. Wie jeder von uns will auch der grollende Typ so, wie er ist, akzeptiert werden und dazugehören. Das wird ihm am ehesten helfen sich zu verändern.

Schattenaspekte

Woher rührt beim grollenden Typ die tiefsitzende Bitterkeit, die sich nicht in Form von offener Aggression zeigen kann? Aus psychodynamischer Sicht liegt dem Groll dieses Typs der Verlust eines als paradiesisch erlebten (oder auch nur fantasierten) Zustandes in der Kindheit zugrunde. Die Wut über diesen Verlust konnte er aber als Kind nicht offen zeigen. Wie dem altruistischen und gewissenhaften Typ drohte ihm Bestrafung, wenn er wütend war. So lernte er, Wut nicht mehr zu spüren und stattdessen eine bittere und pessimistische Sicht auf die Welt einzunehmen.

Der grollende Typ ist ein Meister darin, sich mit der Ungerechtigkeit der Welt intellektuell auseinanderzusetzen. Während der grandiose Typ sagt „die Welt ist ungerecht, aber nicht immer zu deinen Ungunsten“, der altruistische Typ für mehr Gerechtigkeit zugunsten anderer kämpft und der gewissenhafte Typ exakt definieren will, wie eine gerechte Weltordnung auszusehen hätte, ist der grollende Typ von der unverbesserlichen Ungerechtigkeit dieser Welt überzeugt und sieht sich selbst als Hauptbetroffenen.

Diese Überzeugung bedingt, dass der grollende Typ eine innere Verweigerungshaltung einnimmt. Er will sozial zwar dazugehören, aber er weigert sich, voll zu funktionieren in einer Welt, von der er glaubt, dass sie ihn um sein Recht betrogen hat. Nicht, dass er es wagen würde, irgendetwas oder irgendwen offen zu blockieren. Sein Widerstand ist passiv, unterschwellig, fast unmerklich, aber hartnäckig. So gelingt es ihm in einem gewissen Maße, die Ziele seiner Vorgesetzten oder Arbeitsabläufe, an denen er beteiligt ist, zu behindern. Mit dieser Sabotage im Kleinen sabotiert er sich am Ende selbst. Er steht damit zum Beispiel seinem eigenen beruflichen Aufstieg im Weg. Auf diese Weise wiederholen sich seine früheren Frustrationserfahrungen, und er kann sich in seinem pessimistischen Weltbild bestätigt fühlen.

Entwicklungschancen

Wenn du ein grollender Typ bist, hilft es dir nicht, wenn andere versuchen, dir deine pessimistische Sicht auf die Welt und auf das Leben auszureden. Dein Selbstverständnis ist, dass du zu kurz gekommenen bist. Müsstest du dieses Selbstverständnis aufgeben, würdest du einen Teil deiner Identität verlieren. Wie sollst du dich in der Welt bewegen, wie sollst du dich auf diese Welt beziehen, ohne sie still für dein Schicksal anklagen zu können?

Mit der gut gemeinten Empfehlung anderer, die Dinge positiv zu sehen, ist dir nicht gedient. Das Beste, das dir passieren kann, ist ein soziales Umfeld, das dich einfach so, wie du bist, mitnimmt. Das dich gut erträgt, weil es genügend eigenen Optimismus und eigene Lebensfreude besitzt, sodass es durch deine Bitterkeit nicht bedroht wird. Das dich partizipieren lässt und dir ein Modell einer positiveren Weltsicht vorlebt, ohne dir diese Weltsicht aufzunötigen. In einer solchen Umgebung kann du langsam, in deinem Tempo und in deiner Weise, dein Welt- und Selbstbild verändern. In der Tiefe deiner Selle hoffst du ohnehin, dass du von deiner Bitterkeit befreit wirst.

 

10. Der autonome Typ

Wesenszüge

Der autonome Persönlichkeitstyp zeigt sich betont autark, willensstark und durchsetzungsfähig. Er will von niemandem abhängig sein und nimmt nur ungern Hilfe an. Am liebsten will er alles allein entscheiden und machen. Er unterdrückt seine Bedürfnisse nach Geborgenheit und Sicherheit in zwischenmenschlichen Beziehungen. Solche Wünsche werden beim autonomen Typ nur indirekt sichtbar, wenn er beispielsweise aufgrund einer Krankheit auf fremde Hilfe angewiesen ist.

Wichtigste Anliegen 

Tief im Inneren sehnt sich auch der autonome Typ danach, dass andere sich um ihn kümmern, ihm Geborgenheit, Schutz und Orientierung geben. Aber noch dringlicher ist sein Wunsch, dass er niemals (wieder) spüren muss, dass er klein und abhängig ist.

Hauptsorge

Das Gefühl, hilflos und auf andere angewiesen zu sein, ist für den autonomen Typ kränkend und bedrohlich. Er fürchtet sich davor, sich schwach und bedürftig zu zeigen, denn er glaubt, dass er dann enttäuscht und verletzt würde.

Grundkonflikt

So bekämpft der autonome Typ ständig seine Anlehnungs- und Bindungswünsche. Das gelingt ihm so lange gut, wie er jung, gesund und erfolgreich ist. Doch der natürliche Lauf des Lebens bringt jeden von uns früher oder später in Situationen, in denen wir auf die Hilfe anderer angewiesen sind, spätestens im Alter. Außerdem verschwinden Bedürfnisse nicht, wenn ein Mensch sie in sich bekämpft und unterdrückt. In Situationen des Scheiterns (zum Beispiel von beruflicher Selbstständigkeit) oder in Phasen von Not und Schwäche (zum Beispiel bei schwerer Krankheit und Behinderung oder bei zunehmender Gebrechlichkeit im Alter) treten Anlehnungs- und Bindungswünsche stärker hervor.

Empfindlichkeiten

Es liegt auf der Hand, dass solche Situationen und Lebensphasen das innere Gleichgewicht des autonomen Typs erschüttern, weil sie seine Eigenständigkeit bedrohen. Auch erfreuliche und gewollte Veränderungen wie Heirat oder Schwangerschaft können den autonomen Typ erschüttern, weil sie seine Unabhängigkeit einschränken.

Gefühlsreaktion anderer

Andere fallen zunächst auf die Selbstinszenierung autonomer Typen herein und glauben, dass diese ihr Leben tatsächlich auch ohne fremde Hilfe gut im Griff haben. Selbst wenn es ihnen schlecht geht, können autonome Typen anderen nur schwer ihre Not zeigen. Es fällt ihnen auch nicht leicht, andere um Beistand bitten. Oft können sie ihre Anlehnungswünsche und ihre Bedürftigkeit nur mittels psychosomatischer Beschwerden zum Ausdruck bringen. Entsprechend spät erkennen andere, wie groß die innere Not autonomer Typen sein kann, und beginnen, sich um sie zu sorgen. 

Schattenaspekte

Autonome Typen erlebten als Kinder oft, dass ihre Anlehnungs- und Abhängigkeitswünsche von zum Beispiel voll berufstätigen oder durch ein behindertes Geschwisterkind überforderten Eltern nicht ausreichend befriedigt werden konnten. Die Eltern erwarteten schon früh ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Durch selbstständiges Verhalten gelang es den betroffenen Kindern, Anerkennung und damit wenigstens ein Mindestmaß an Zuwendung der Eltern zu gewinnen. Diese Kinder mussten dafür auf ihre natürlichen Bindungs- und Geborgenheitswünsche verzichten. Auch konnten sie ihre Frustration und Wut darüber, dass wichtige Bedürfnisse unerfüllt blieben, nicht zum Ausdruck bringen.

Aus psychodynamischer Sicht werden die Bedürfnisse und die Wut solcher Kinder zu etwas Unbewusstem. Sie werden im Inneren des Kindes gehemmt, ohne dass das Kind etwas davon wüsste. Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeuten sprechen hier auch von unbewusster Abwehr: Bedürfnisse und Affekte, welche die Bindung zu den Eltern belasten würden, werden nach dieser Theorie verdrängt, verleugnet oder abgespalten. Bei Kindern, deren Anlehnungsbedürfnisse gehemmt sind, ist die Autonomieentwicklung häufig beschleunigt und verstärkt. Die unterdrückte Wut kann in einem auffallend eigensinnigen und schwer beeinflussbaren Verhalten zum Ausdruck kommen, das beim Erwachsenen in die Lebenshaltung mündet: Ich mache mein Ding, egal was andere dazu sagen.

Entwicklungschancen

Als autonomer Typ zeigst du eine Reihe von Motivationen und Qualitäten, die durchaus als Ausdruck gesunder Selbstliebe und Selbstfürsorge zu würdigen sind: Als autonomer Typ willst du selbstbestimmt sein, deinen eigenen Weg finden und auf eigenen Beinen stehen. Du willst möglichst wenig der Willkür anderer oder den Launen des Schicksals ausgeliefert sein. Du versuchst, dich aus lähmenden Bindungen und Mustern zu befreien. Im Idealfall bist du entschlossener als andere, deine einzigartigen Fähigkeiten zu entfalten und damit deine eigentliche Lebensaufgabe zum Wohl der Gesellschaft zu erfüllen.

Aber als autonomer Typ verleugnest du etwas: Wir Menschen sind soziale Wesen, die sich binden wollen, ja binden müssen. Wir sehnen uns von Natur aus nach stabilen Beziehungen, nach Vertrauen, nach emotionaler Sicherheit und Geborgenheit. In deiner Lebensgeschichte war für solche Bedürfnisse möglicherweise nicht der Raum, den es gebraucht hätte. Es war in deiner Kindheit niemand da, der deine natürlichen Anlehnungswünsche erfüllen konnte. Vielleicht bist du daher zu der tiefen Überzeugung gelangt, dass du dich nur auf dich selbst verlassen kannst – nach dem Motto: Suchst du eine hilfreiche Hand, dann findest du sie am Ende deines eigenen Arms.

Diese Haltung ist nicht verkehrt, aber sie ist einseitig. Diese Einseitigkeit hat ihren Preis, der sich mit zunehmendem Alter erhöht. In Deutschland lebt in 40 Prozent der Haushalte nur eine Person. In deutschen Großstädten machen Single-Haushalte im Schnitt schon die Hälfte aller Haushalte aus – Tendenz steigend. Bei jungen Menschen, die ihre Freiheit genießen wollen, mag das noch Sinn ergeben. Aber ist es auch sinnvoll, dass ein Drittel der Alleinlebenden über 64 Jahre alt ist? Besonders in den reicheren Ländern im Norden Europas neigen die Menschen dazu, allein zu wohnen. Schweden liegt mit über 50 Prozent an der Spitze.

Eine Alternative zu Vereinzelung und sozialer Isolierung zeigen gemeinschaftliche Wohnformen auf. Immer mehr Menschen tun sich zusammen, um gemeinsam zu leben. Sie teilen Ressourcen wie Wohnraum, Haushaltsgeräte, Garten und Autos, aber auch Werte und Visionen. Nicht wenige sind bereit, mit weniger persönlichem Besitz auszukommen, um ihren Kostendruck zu reduzieren und mehr Zeit für sich selbst und für andere zu haben. Sie ziehen es vor, aufeinander angewiesen zu sein, statt ihre Kräfte weiter in einem zunehmend sinnlos erscheinenden Kampf um Unabhängigkeit zu verzehren.

Wie sieht es mit deinem Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit aus? Wieviel Freiheit und Autonomie bist du bereit aufzugeben, um dich geborgener zu fühlen? Wo liegt für dich die angemessene Balance? 


Wozu sind die Persönlichkeitstypen gut?

Die zehn Persönlichkeitstypen dienen unter anderem dazu, dass wir uns selbst und andere in der Tiefe unseres Wesens besser verstehen und akzeptieren können. Es gibt nicht den richtigen oder falschen Persönlichkeitstyp. Wie eingangs bereits erwähnt, zeigen die meisten von uns ohnehin Wesensmerkmale mehrerer Persönlichkeitstypen. Wir können zum Beispiel sagen: Andrea ist ein altruistischer Typ mit anhänglichen und verführerischen Anteilen. Oder: Ich bin ein gewissenhafter Typ mit grandiosen Anteilen.

Wenn wir wissen, was für ein Typ wir sind, dann erscheinen uns unsere Seelenzustände und unser Verhalten vielleicht nicht mehr so zufällig, sondern gewinnen eine innere Logik. Wir werden uns unserer selbst bewusster, erleben uns auch über die Zeit hinweg mit deutlicherer Kontur, Identität und Kontinuität.

Jeder Persönlichkeitstyp hat – je nach Situation und Anforderung – Vorzüge und Nachteile. Die zehn Persönlichkeitstypen und die zahllosen Mischtypen ermöglichen uns einen wohlwollenden Blick (ganz ohne Bewertung!) auf andere und auf uns selbst. Am Anfang mag ich von dem einen oder anderen befremdet sein. Vielleicht löst jemand in mir sogar starke negative Gefühle und Reaktionen aus. Oder ich in ihm. Es liegt dann nahe, den, der so anders denkt, spricht und agiert wie ich, abzulehnen, zu meiden und zu entwerten. Ich kann aber auch versuchen zu verstehen, mit welchem Persönlichkeitstyp ich es zu tun habe. Dann erkenne ich vielleicht, dass das, was ganz natürlich zum Wesen des anderen gehört, genau meine empfindlichen Bereiche oder Schattenthemen betrifft.

Ähnliches gilt, wenn ich mit einem Menschen, den ich liebe, unüberwindbare Schwierigkeiten oder Auseinandersetzungen habe. Dann kann ich mich fragen, was das mit meinem und seinem Persönlichkeitstyp zu tun hat. Wir erkennen dadurch vielleicht, wie sinnlos auf Dauer gegenseitige Schuldzuweisungen sind.

Spannend ist auch die Frage, welcher Persönlichkeitstyp als Lebenspartner, Freund, Kollege, Mitarbeiter oder Geschäftspartner besonders gut zu mir passt. Sollte er mir möglichst ähnlich sein? Sollte er meine Fähigkeiten optimal ergänzen? Welcher Typ kann für mich ein gutes Vorbild sein, von dem ich besonders viel lernen kann? Welcher Typ wird mich besonders stark mit meinen empfindlichen Bereichen und Schattenaspekten konfrontieren? Wieviel Konfrontation tut mir wirklich gut? Wieviel Schattenarbeit kann ich verkraften?

Durch die Bestimmung des Persönlichkeitstyps eines Menschen kannst du – zusammen mit dem Erkennen seiner Stärken und Schwächen – besser seine Symptome und Lebensprobleme verstehen. Selbstverständlich trifft das auch auf dich selbst zu.  

 

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Die Persönlichkeitstypen spielen auch im Rahmen der Gesundheitswochen im Kloster NaturSinne eine wichtige Rolle.

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[1] angelehnt an die tiefenpsychologischen Persönlichkeitsstile von Boessmann und Remmers, 2016: „Praktischer Leitfaden der tiefenpsychologisch fundierten Richtlinientherapie - Wissenschaftliche Grundlagen, Psychodynamische Grundbegriffe, Diagnostik und Therapietechniken“, Berlin: Deutscher Psychologen Verlag


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